© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Bildung ohne übertriebene Ganzheitsphantasien
Lästige Normativität
(wm)

Die Gesellschaftslehre, erst vor gut hundert Jahren an den Universitäten als Soziologie etabliert, hat sich seit den 1980ern von ihrem Forschungsgegenstand verabschiedet. Sie versteht sich heute als „Soziologie ohne Gesellschaft“ (Alain Touraine). Weil der Gesellschaftsbegriff, und erst recht ähnliche „Konstruktionen“ wie Volk oder Nation, „übertriebenen Homogenitäts- und Ganzheitsphantasien Vorschub“ leisten (Thomas Schwinn), die in einer neoliberal „diversen Kultur“ (Emmanuel Macron) nichts mehr zu suchen hätten. Dieser gegen „essentialistisches Denken von Ganzheiten“ gerichtete Furor tobt sich mit gleicher autoaggressiver Wut in einem Fach aus, das sich seit seinen Anfängen im frühen 18. Jahrhundert als „Nationalpädagogik“ definierte. Für den Bildungshistoriker Rudolf Lassahn, Jahrgang 1928, hat sich auch die bundesdeutsche Erziehungswissenschaft der „mitgeschleppten Normativität“ des Ganzen und damit des herkömmlichen Zentrums aller „Bildung“ entledigt. Weil sie aber nur noch „soziale Handlungswissenschaft“ sein wolle, könne sie so wenig wie eine im Positivismus versunkene Soziologie eine Orientierung gebende „größere Einheit“ des Wissens vermitteln. Beide Sozialwissenschaften verzichten daher auf die „Einordnung der Dinge in den größeren Zusammenhang“. Und ignorierten damit das Vorbild des über Balzacs „Comédie humaine“ auf Karl Marx’ Gesamtschau kapitalistischer „Totalität“ einwirkenden Wissenschaftsideals Alexander von Humboldts, das in bildungspolitischen Festreden zu dessen 250. Geburtstag im vorigen Herbst so wortreich wie folgenlos beschworen worden war (Pädagogische Rundschau, 4/2019). 


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