© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Das Ende der Traumzeit
Literatur: Der Schriftsteller Lutz Seiler hat mit „Stern 111“ einen grandiosen Roman vorgelegt
Thorsten Hinz

Der neue Roman von Lutz Seiler, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2020, umspannt die Zeit vom November 1989 bis Anfang 1991. Wer eine simple Neuauflage des Wende- oder Einheitsromans befürchtet, darf sich beruhigen. Es handelt sich um einen subkutanen Künstler- und Entwicklungsroman. Er widerspiegelt ein spezielles Segment von der Innenseite der großen Geschichte, deren Komparsen die DDR-Bürger einen Lidschlag lang waren.

Während die Massen nach dem Mauerfall nach Berlin strömen, fährt die Hauptfigur, durch ein Telegramm der Eltern alarmiert, ins thüringische Gera: „‘Carl Bischoff, einziges Kind von Inge und Walter Bischoff, geboren 1963 in Thüringen; zur Zeit Student’; Student war nur dünn und mit Bleistift eingetragen ...“ Das Studium hat er schleifen lassen; er fühlte sich zum Dichter berufen. Jetzt fürchtet er, zu den „Schiffbrüchigen“ zu gehören, „die nicht mehr zurück ins Festlandleben“ finden. Die Metaphern verweisen auf „Kruso“, Seilers vorangegangenen Erfolgsroman. („Schiffbrüchige auf der Arche“, JF 42/14) „Stern 111“ ist seine indirekte Fortsetzung.

Die Eltern machen dem Sohn keine Vorwürfe. Sie wollen in den Westen, obwohl sie dort keine Verwandten haben. Jetzt, sofort, auf der Stelle soll Carl sie in das Aufnahmelager nach Gießen bringen. Die Gründe wird er erst am Schluß erfahren. Im Moment begreift er nur, daß er vom Leben seiner Eltern wenig weiß.

Anschluß an die Hausbesetzerszene

Zunächst hütet er die elterliche Wohnung. Doch auch ihn ergreift die „Hypnose des Aufbruchs“. Er fährt ebenfalls nach Berlin, wo er niemanden kennt und im Auto des Vaters campiert, einem Shiguli, der russischen Fiat-Version mit dem kastenförmigen Design der sechziger Jahre.

Als „Shigulimann“ findet er Anschluß an die Ost-Berliner Hausbesetzer- und Aussteigerszene, die sich in der herrschaftsfreien Traumzeit formiert. Die alten Mächte haben sich verflüchtigt, die neuen sondieren erst das Terrain und sind noch nicht spürbar. In den morbiden und labyrinthischen Mietskasernen des Prenzlauer Bergs findet auch Carl eine Bleibe. Wohnungen stehen leer, die Bewohner sind entweder gestorben, ins Heim verzogen oder Hals über Kopf in den Westen gegangen. Die Türen werden aufgebrochen, die Schlösser ausgewechselt, niemand stellt Fragen. Er fährt Schwarztaxi und werkelt an Gedichten. Von den anderen unterscheidet ihn, daß er die Traumzeit im Modus der Vergangenheit erlebt: „Alles schien wie eingebettet und lange schon geplant, in genau dieser einzig logischen Folge. Das war ein seltsames Gefühl. Es war das Vorgefühl einer Legende (falls es das gibt, dachte Carl), die sich anschickte, ihn aufzunehmen in ihr tiefes, alles umfassendes ‘Es-war-einmal’.“ 

Hoffi, das Oberhaupt der Szene, genannt „der Hirte“, ist ein Charismatiker, Romantiker und freundlicher Anarchist. Er trägt einen Poncho, schwärmt von Solidarität und arbeiterlichen Kooperativen und möchte die Zeit der Herrschaftsfreiheit ins Unendliche dehnen. Er wird von einer Ziege begleitet, Dodo geheißen, deren Milch er als universellen Heiltrunk empfiehlt. Er verabscheut das Wort „Plenum“, das an die SED erinnert, lehnt aber auch Westimporte wie „Infoladen“ und „soziokulturell“ ab. Die Militanz der West-Berliner Hausbesetzer, in der ein gewisser Kruso den „Comandante“ gibt, ist ihm fremd. Er besteht darauf, daß die Häuser nicht „besetzt“, sondern von ihnen in „Obhut genommen“ und „bewohnt“ werden.

In seinem Utopismus verbindet Marx sich mit Heidegger, für den das Wohnen ein „zum Frieden gebracht sein“ bedeutete und „im Wohnen das Menschsein beruht(e)“. Wer wohnt, ist „eingefriedet (…) in das Freie“ und eine Aufgabe von transzendentaler Dimension: „Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Erde retten.“ 

Der Hirte begreift die Aufgabe ganz praktisch: Unter seiner Leitung wird im Kellergeschoß eines heruntergekommenen Hauses in der Oranienburger Straße – die damals als neue Niederlassung des Weltgeistes gehandelt wurde – das (tatsächlich existente) Café „Assel“ ausgebaut, um der Utopie eine Heimstatt zu geben. Über der Treppe prangt die Aufschrift „REVOLUTIONÄRE HANDWERKERINNEN“. Doch das idealistische Vorhaben bricht sich an der Realität. Bald versammeln sich „zu viele Nichtsnutze, Studenten, Schmarotzer, all die Typen mit den linken Händen“.

Carl hingegen verfügt über handwerkliche Fähigkeiten und erarbeitet sich Respekt. Ein neugegründeter Verlag bringt in einer Anthologie einige Gedichte von ihm heraus. Auf einer Ausstellungseröffnung trifft er Effi, seine Jugendliebe, die einen kleinen Sohn hat. Sie ziehen zusammen. Das Verhältnis verkompliziert sich, als der Kindesvater, ein freier Musiker, eine Nachbarwohnung besetzt. Der introvertierte Carl staunt über Ralf, einen mit Sieger-Genen ausgestatteten Ossi, der eine teure Lederjacke trägt, ein neues Auto fährt und dem eine große Karriere bei Woolworth – man denke! – winkt.

Die äußere Handlung ist sparsam und beschränkt sich geographisch auf ein paar Berliner Straßenzüge. Was damals die Nachrichten füllte: die Wahlkämpfe, die Treuhand, die Großkundgebungen mit Helmut Kohl, der Einigungsvertrag, kommt höchstens als Hintergrundrauschen vor. Die große Erzählkunst Seilers, der von Haus aus Lyriker ist, entfaltet sich im Ausbuchstabieren der Dinge. Wie bei Rilke, der jeden Gegenstand, jedes Ding als ein Gefäß betrachtete, in dem sich Menschliches vorfindet, verströmen die Gegenstände in Seilers Prosa eine memorable und assoziative Energie. Das Erwachen in der ausgekühlten Wohnung mit Außenklo vollzieht sich so: „Sein Floß aus Matrazen legte an, und langsam kehrte Carl zurück aus dem Schlaf. Die Toilette auf der Treppe war am Morgen zu weit draußen, irgendwo Richtung Nowosibirsk. (…) Eiskalte Füße und immer kältere Dielen – das war der Herbst.“ Es ist der Herbst 1990, der die deutsche Einheit bringt.

Das Machtvakuum wird allmählich gefüllt

Beim Instant-Kaffee von Nestlé kommt Carl ins Grübeln: „Oder hatte es löslichen Kaffee im Osten gegeben? Manchmal verschwammen die Dinge – vorher und nachher. Seltsam, wie die Himmelsrichtung im Grunde alles ausdrücken konnte, die ganze Geschichte. Im Osten. Im Westen. Norden und Süden erschienen relativ bedeutungslos.“

Allmählich wird das öffentliche Machtvakuum gefüllt, und auch in der Besetzerszene finden Umschichtungen statt, bilden sich neue Hierarchien heraus. Im November 1990 kam es in der Ost-Berliner Mainzer Straße, in der eine militante West-Szene sich etabliert hatte, zu einer regelrechten Schlacht mit der Polizei. Mit ausgebreitetem Poncho tritt Hoffi, der Hirte, als Schutzengel für einen romantischen Märtyrer in Erscheinung, der sich mit einem Molotow-Cocktail in die Tiefe stürzen will. Er stürzt an seiner Stelle vom Dach und verletzt sich. „Ist da herumspaziert wie ein Gott, aber völlig schutzlos (…).“

Die Szene ist wie von Marc Chagall gemalt und zugleich ihre Widerlegung. Bei Chagall ist die Schwerkraft aufgehoben, Liebespaare schweben, Fische fliegen, der Ziegenbock spielt Geige und die Zeit entflieht den Uhren. Hoffis Sturz markiert das Ende der Schwerelosigkeit. Die Schwerkraft holt die Menschen wieder ein, die Zeit kehrt in die Uhren zurück und wird im Minutentakt portioniert.

Die Autorität des Hirten ist gebrochen, sein imposanter Körper löst sich förmlich auf. Nun erschließt sich auch der Name der Ziege: Dodo war ein Riesenvogel von der Insel Mauritius, der im Laufe der Evolution das Fliegen verlernt hatte. Da er auf der Insel keine natürlichen Feinde besaß, hatte er auch keine Flucht- oder Abwehrtechniken entwickelt. Zutraulich und naiv, wie er war, konnte er sich der Seefahrer und der mitgebrachten Ratten, Katzen und Affen nicht erwehren und starb 1690 aus.

Das Publikum in der „Assel“ wird immer undurchsichtiger. Prostituierte, Zuhälter, versprengte russische Soldaten treffen sich hier. „Die wilden Zeiten sind vorbei, nicht wahr?“ Jetzt gehören sie tatsächlich der Vergangenheit an. Und der Woolworth-Erfolgsmensch springt aus Liebeskummer vom Dach.

Biographische und literarische Querverweise

Neben der neuen Staatsmacht gibt es ein zweites Schwergewicht, welches die Leichtigkeit in die Tiefe zieht: die Last der Geschichte. Eine alte Nachbarin hatte düster die Rückkehr der Toten prophezeit. Nun melden sich jüdische Erbengemeinschaften, die Nachkommen enteigneter und deportierter Besitzer, und machen Ansprüche auf die Häuser geltend. Die andere Last ist präsent in den Häuserlücken, die von Bomben gerissen wurden, und in Effis depressiven Phasen. Ein Kind noch, hatte sie ihre tote Mutter aufgefunden, sie sich mit Gas vergiftet hatte. Im Roman wird eine Parallele zum Freitod der englischen Dichterin Sylvia Plath 1963 gezogen, doch auch Inge Müller, die Ehefrau Heiner Müllers (der im Roman kurz erwähnt wird) ist gemeint. Im April 1945 war die junge Frau nach drei Tagen lebend aus den Trümmern ihres zerbombten Hauses geborgen worden. Sie grub im Schutt weiter nach den Eltern, die beide tot waren. Sie hat das Erlebnis nie verwunden und vergiftete sich 1966 mit Gas.

Solche biographischen und literarischen Querverweise konstituieren zusätzliche Bedeutungsebenen. Carl ist das positive Gegenstück zum Dichter und Stasi-Spitzel „Cambert“ aus Wolfgang Hilbigs klaustrophobischem Roman „Ich“. Ein Satz aus Rilkes „Malte Laurids Brigge“ bildet das Motto des Romans: „Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen“, und führt zu Reiner Kunzes Buch „Die wunderbaren Jahre“ über die Kindheit und Jugend in der DDR. Das Gefühl, ein falsches Leben am falschen Ort zu führen, welches Carls Eltern auf den Sohn übertragen und das sich in Gewaltmärschen entlädt, erinnert an Hans-Ulrich Treichels „Verlorenen“.

Warum die Eltern auf dem „Walk of Fame“ in Los Angeles Blumen auf Bill Haleys Stern niederlegen und was das mit dem Buchtitel „Stern 111“ zu tun hat, mag der geneigte Leser persönlich erkunden in Lutz Seilers meisterhaftem Roman.

Lutz Seiler: Stern 111. Roman. Suhrkamp, Berlin 2020, gebunden, 528 Seiten, 24 Euro