© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Bismarck zur Corona-Krise: „Wie sind wir Deutschen doch in den Ruf schüchterner Bescheidenheit gekommen? Es ist keiner unter uns, der nicht vom Kriegführen bis zum Hundeflöhen alles besser verstände als sämtliche gelernten Fachmänner“. Und: „Ich weiß kein Land, wo das allgemeine Nationalgefühl und die Liebe zum Gesamtvaterlande den Ausschreitungen der Parteileidenschaft so geringe Hindernisse bereitet wie bei uns.“

˜

Das Netz hat etwas Plebejisches, im Guten wie im Schlechten.

˜

Dahrendorf zur Corona-Krise: Kurz vor seinem Tod im Jahr 2009 äußerte der Soziologe Ralf Dahrendorf in einem Interview, daß er nicht an eine dauerhafte Überbevölkerung des Planeten glaube. Die Menschenzahl werde auch in Zukunft – medizinischer Fortschritt hin oder her – durch Epidemien regelmäßig drastisch reduziert.

˜

Für die Ausstellung „Racines“ – „Wurzeln“, die in Lüttich gezeigt wurde, hat man mit der Figur des „Denkers“ geworben. Es handelt sich um eine kleine Terrakotta, die einen Mann darstellt, der auf einer Art Hocker sitzt, die Arme auf die Knie gestützt, den Kopf sinnend in den Händen. Fast abstrakt, auf die Konturen reduziert, wirkt sie ausdrucksstark auch auf den heutigen Betrachter, im Grunde wie das Werk eines modernen Künstlers. Tatsächlich ist das Stück aber 7.000 Jahre alt und gehört zur der Hamangia-Kultur (auf dem Gebiet des heutigen Rumänien), die, wenngleich schriftlos, doch großartige Artefakte hinterlassen hat. Sie wurde während des Neolithikums von jenen Bauern und Viehzüchtern geschaffen, die als Träger der sogenannten Donauzivilisation gelten. – Wenn es um die europäische Identität geht, sollten wir bei der Suche nach unseren „Wurzeln“ nicht zu zaghaft sein.

˜

Schmitt zur Corona-Krise: Teil theoretischer Halbbildung ist die Behauptung, daß der Staatsrechtler Carl Schmitt für das Freund-Feind-Denken verantwortlich sei. Nun kommt noch dazu, daß er vom permanenten Ausnahmezustand phantasiert habe, um den totalen Staat zu rechtfertigen. Davon kann keine Rede sein, aber einer seiner Schüler – Rüdiger Altmann – hat aus Schmitts Gedankengang die schöne Formulierung abgeleitet, daß der Ernstfall der cas réel, also „der wirkliche Fall“ sei. Wirklich insofern, als er das Gespinst der weißen Lügen, der gnädigen Täuschungen wegreißt. Das erfüllt natürlich jeden mit Sorge, der an deren Aufrechterhaltung interessiert ist. Michael Rühle etwa, seines Zeichens Leiter des Referats für hybride Herausforderungen und Energiesicherheit im Internationalen Stab der Nato, der behauptet, daß es eines neuen „Gesellschaftsvertrages“ bedürfe. Schmitt hätte kaum ein Achselzucken übriggehabt für solche Fiktionen, denen selbst der Vorteil der Nützlichkeit fehlt.

˜

Wenn es gelänge, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) abzuschaffen, wäre das ein Schritt in die richtige Richtung. Danach könnte man gleich mit der Unesco und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Unicef, weitermachen.

˜

Bry zur Corona-Krise: Der Journalist Carl Christian Bry (eigentlich Carl Decke) gehört zu jenen Autoren, die mit einem einzigen Buch Entscheidendes geleistet haben. In seinem Fall: „Verkappte Religionen“ (momentan nur kostspielig als Faksimile-Ausgabe oder kostenlos als PDF unter http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/titleinfo/1214703). Darin behandelte Bry die parareligiöse Struktur geschlossener Weltbilder. Zu deren Kennzeichen gehörte seiner Meinung nach ein ausgesprochen rationalistischer Grundzug. Die Behauptung nämlich, alles erklären zu können, und zwar alles aus einem Punkt, da der Anhänger einer „Verkappten Religion“ überzeugt ist, hinter das zu schauen, was vor aller Augen steht. Die Position des „Hinterweltlers“ ist mithin eine „aufschluckende“, meinte Bry, und deshalb nicht zu widerlegen. Ganz gleich, was ihm an Einwänden oder Argumenten entgegengehalten wird, es ist schon erledigt, und derjenige, der widerspricht, entweder gekauft oder dumm oder beides. Hinterweltlertum kann sich mit fast jedem Glauben und jeder ideologischen Position verbinden. So mag der harmlose Gast im Salzfaß bei Tisch ein Salzfaß sehen, aber der wahrhaft Erleuchtete wird in ihm das Sinnbild des Heiligen Grals erkennen, der Libertäre den Anlaß nutzen, um die Versklavung des Einzelnen durch die Salzsteuer zu beklagen, während der Marxist die Abschöpfung des Mehrwerts durch die Kapitalisten bei Salzproduktion und -handel thematisiert, der Freudianer sinnt über die Phallussymbolik des schlanken Gefäßes und der Völkische hebt auf das Salzmonopol der Juden ab, das sie seit den Zeiten der alten Phönizier an sich bringen, nicht zuletzt durch die hohe Quote jüdischer Angestellter in den staatlichen Salinen, und das nur zu einem Zweck, nämlich das wertvolle Gut dem Arier vorzuenthalten oder überteuert abzugeben.

˜

Geistige Unabhängigkeit zeigt sich auch darin, die Erwartung der Sympathisanten willentlich zu enttäuschen.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 8. Mai in der JF-Ausgabe 20/20.