© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Schwarze Schwäne werden von niemandem erwartet
Existentielle Bedrohung: Der Einbruch des Ernstfalls bewirkt eine Renaissance des Politischen und eine Rückkehr der Geschichte
Felix Dirsch

Das von dem Erfolgsautor Nassim Nicholas Taleb popularisierte Konzept der Schwarzen Schwäne, eine Metapher für unwahrscheinliche Ereignisse, will den Verlauf der Historie vom Extremen und vom hereinbrechenden Unbekannten bestimmen. Der Kontrast zum Normalverlauf der Geschichte wird gerade in Umbruchsphasen offenkundig.

Viele der Zäsuren seit 1945 sind für die meisten Zeitgenossen keine existenzbedrohenden gewesen. „1968“ ist der Höhepunkt eines langfristigen Wertewandels, der bis heute ausstrahlt. „1989“ bedeutete für Teile der Bevölkerung Deutschlands zwar eine starke Veränderung von Leben und Alltag, die Revolution vor rund drei Jahrzehnten war aber eine betont friedliche. Auch die Terroranschläge von 2001 sind hierzulande größtenteils als mediales Ereignis eingestuft worden, die verschärften Flughafenkontrollen im Anschluß daran tangierten viele nicht. Noch weniger erwies sich die Finanzkrise von 2008/09 als bleibender Aufreger, berührte sie doch die Realwirtschaft nur am Rande.

Warum die große Krise dieses Jahres eine neue Dimension erreicht hat, ist offensichtlich: Die Furcht vor einer höheren Wahrscheinlichkeit des Todeseintritts beunruhigt weite Kreise der Bevölkerung. Die allgemeine Risikowahrnehmung hat sich nach Bekanntwerden der durch das Coronavirus Sars-CoV-2 hervorgerufenen Erkrankungen spürbar verändert. Risiko meint nicht die Katastrophe selbst, sondern deren Antizipation – und diese läßt eine wichtige psychologische Komponente erkennen, die von statistisch berechenbaren Lebensrisiken unabhängig ist. Eine entscheidende Dimension für die Perzeption ist die Ungewißheit über die genauen Umstände der Herkunft und den Verlauf der Pandemie, ebenso über ihr Ende. Die Erfahrungswerte der Experten sind gering, ihre Aussagen oft widersprüchlich.

Carl Schmitt dachte über den Ausnahmefall nach 

 Wer behält in dem Durcheinander den Überblick? Postnationale Gelehrte wie der verstorbene Soziologe Ulrich Beck („Weltrisikogesellschaft“) sahen in ihren Katastrophenszenarien, die primär Klimawandel, Finanzmarktturbulenzen und Terrorattentate beleuchteten, den Nationalstaat höchstens am Rande agieren. Global induzierte Krisen lassen sich auf der internationalen Ebene aber nicht beheben, da diese kein zentrales Handlungssubjekt kennt. Eine Weltregierung gibt es eben nicht, obwohl transnationale Eliten mit einer solchen liebäugeln. 

In Ausnahmemomenten ist schnelles Handeln erforderlich. So wurden die Landesgrenzen ohne große Debatten geschlossen. Inflationäre Diskurse hätten die ohnehin schwierige Situation zusätzlich verschärft. Nur der Staat besitzt die nötigen Ressourcen, klare Anordnungen zu treffen und durchzusetzen. Manchmal beschleunigt sich die Geschichte unerwartet.

Warum in ersten Erklärungsversuchen der Name Carl Schmitt häufiger fällt, liegt auf der Hand. Der Staatsrechtslehrer hat in paradigmatischer Weise über den Ausnahmefall und das Wesen des Politischen nachgedacht. Längst klassisch ist folgende Definition in der 1927 erstmals publizierten Schrift „Der Begriff des Politischen“: „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“ Schmitt will keine erschöpfende Definition präsentieren, sondern nur ein grobes Kriterium, inwiefern sich das Politische von anderen Sphären (Wirtschaft, Kunst, Recht und so fort) unterscheidet. 

Außerordentliches staatliches Handeln differenziert im Sinne Schmitts zwischen „wir“ und „anderen“. Auf einmal sind lebensnotwendige Güter knapp: Das Fehlen von Atemschutzmasken, Beatmungsgeräten, Schutzkleidung und anderem zeigt pointiert die eigene Verwundbarkeit. Selbst Konfiszierungen stellen auf einmal kein Tabu mehr dar.

Die durch das Virus ausgelöste Situation, die deshalb existentiell ist, weil der Tod  – unabhängig von den faktischen Opferzahlen – zumindest im Bewußtsein näher rückt, ermöglicht eine Renaissance der Thesen Schmitts. Jahrzehntelang hatten solche Vorstellungen wenig Bezug zum Lebensalltag in der Konsum- und Spaßgesellschaft. Politik und Ethik im eigentlichen Sinn entstehen dort, wo es ernst wird. Hier sind Schmitt und einige seiner Gewährsleute (wie der Philosoph Sören Kierkegaard) gefragt. 

Nun dachte Schmitt bei seiner Freund-Feind-Distinktion vor allem an den kriegerischen Ernstfall. Er hat begründet den Vorwurf von sich gewiesen, er sei Bellizist. Er plädierte nicht für die Unentbehrlichkeit des Krieges, sondern wollte wenigstens die Möglichkeit einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod offenhalten. Ansonsten befürchtete er einen Verlust von existentiellen Spannungen, der zu kollektiver Erschlaffung und zu „letzten Menschen“ im Sinne Nietzsches führt.

Rückkehr zur Normalität ist nicht absehbar

Schmitt hat seine Schreckensvorstellung klar benannt. Im Briefwechsel mit dem jüdischen Philosophen Leo Strauss hat er die Konfliktlosigkeit des weltumspannenden Handels als Teufel an die Wand gemalt. Verfechter einer De-Globalisierung, die sich gegenwärtig zu Wort melden, wissen um die Verdienste ihres Vorläufers. Die Langeweile, die sich im Szenario der „One World“ abzeichnet, trägt für Schmitt den Keim einer großen Deshumanisation in sich. Selbst in überspitzten Ansichten wie denjenigen Schmitts steckt mitunter ein wahrer Kern: Nach einer segensreichen Friedensperiode von siebeneinhalb Jahrzehnten sind dekadente Auswüchse bisweilen unübersehbar. Gender-Gaga, Greta-Kult, der Hype um das dritte (bald wohl um das sechzigste) Geschlecht und ein geplantes Namensrecht, das jedem Bürger innerhalb eines Jahrzehnts einmal die Wahl eines beliebigen Vor- und Nachnamens einräumt, sind nur wenige Beispiele.

Wer aber ist in der unmittelbaren Lage der Feind? Ein erst seit kurzem bekanntes Virus, das menschliche Organismen als Wirt zur Replikation und damit zu Multiplikatoren der eigenen Art instrumentalisiert? Ein Mensch als Überträger wird in der Folge zum potenziellen Feind des anderen.

Schmitts Hauptgegner, der liberale Rechtsgelehrte Hans Kelsen (1881–1973), hat das Problem der Ausnahme nicht als ein rechtswissenschaftliches gesehen. Für Vertreter freiheitlicher Weltanschauung ist klar, daß der Staat nicht in der Lage ist, komplexe Gesellschaften zu steuern. Folglich bevorzugen Liberale notwendig die Tatenlosigkeit – auch da, wo Aktion gefordert ist – und fordern jetzt vestärkt die Rückkehr zur Normalität. Die ist aber vorerst noch nicht absehbar.