© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Die Corona-Pandemie und deren Vorhersehbarkeit durch Mathematik
Shutdown war vermeidbar
Michael Espendiller

Das größte Manko der menschlichen Rasse ist unsere Unfähigkeit, die Exponentialfunktion zu verstehen.“ Dieses Zitat stammt von dem Physiker Albert Allen Bartlett. Die Gültigkeit dieses Satzes bewahrheitet sich im Angesicht der Covid-19-Pandemie, in der ein Verstehen dieser mathematischen Funktion Menschenleben gerettet und das sprichwörtliche Verbrennen von Milliardensummen verhindert hätte.

Weltweit werden gerade ganze Gesellschaften in den Shutdown geschickt, wirtschaftliche Existenzen vernichtet, Menschen in Armut getrieben, und viele kämpfen wegen medizinischer Unterversorgung um ihr Leben oder haben es verloren. Wie konnte das überhaupt passieren?

Die offizielle Linie der Bundesregierung lautet in etwa: Das neuartige Coronavirus ist sehr gefährlich, hoch ansteckend, und mit dem konkreten epidemiologischen Verlauf hat niemand rechnen können. Daher sind die getroffenen Maßnahmen unvermeidbar.

Mathematisch gesehen sind dies sehr gewagte Aussagen für eine Regierung, die glaubt, das Klima der nächsten 100 Jahre voraussagen zu können. Denn zur Vorhersehbarkeit von Epidemien bedient man sich, genau wie in der Klimawissenschaft, mathematischer Modelle. Mit einem Unterschied: Die in der Epidemiologie verwendeten Modelle sind um ein Vielfaches einfacher als Klimamodelle.

Also, war die Ausbreitung des Coronavirus tatsächlich so unvorhersehbar? Und sind die Maßnahmen, die getroffen werden, dementsprechend unvermeidbar gewesen?

Um es vorwegzunehmen, die Antwort auf diese Fragen lautet „nein“. Die Wissenschaft ist schon seit langem in der Lage, Epidemie- und Pandemieverläufe zu berechnen.

Der Schweizer Mathematiker und Physiker Daniel Bernoulli hat bereits im Jahr 1766 mit einem mathematischen Modell die Wirksamkeit von Pockenimpfungen nachweisen können. Der schottische Biochemiker William Kermack und der Militärarzt Anderson   McKendrick legten in den 1920er Jahren mit ihren epidemiologischen Modellen dann den Grundstein für alle weiterentwickelten Modelle, die heute in der Epidemiologie benutzt werden.

Eine regelrechte Konjunktur für die Epidemiologie wurde durch die Sars-Pandemie von 2002 bis 2003 ausgelöst. Im weiteren Forschungsverlauf wurden zur Verbesserung der Datenmodellierungen Erkenntnisse aus weiteren Krankheitsausbrüchen verwertet, zum Beispiel aus der seit 1961 weltweit auftretenden Cholera-Pandemie, der H1N1-Pandemie (besser bekannt als „Schweinegrippe“) von 2009 bis 2010 und dem Auftreten von Mers im Jahr 2012. Dabei wurde auch die gestiegene weltweite Vernetzung beziehungsweise Globalisierung berücksichtigt.

Aus den Modellberechnungen und Erfahrungen vergangener Krankheitsverläufe ließen sich grundsätzliche Maßnahmen und Aussagen zu deren Wirksamkeit im Pandemiefall ableiten. An dieser Stelle ist nochmals zu betonen, daß diese Maßnahmen auch schon vor Auftreten des neuartigen Corona-Virus bekannt waren und aktuell keineswegs neu erfunden werden.

Wir waren mit dem Ergreifen von Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus zu zögerlich. Die Zerstörung unserer Wirtschaft war nicht unvermeidlich, sondern sie wurde von der Regierung mit an Dummheit grenzender Fahrlässigkeit verschuldet.

Das gezielte Identifizieren und Isolieren von Infizierten, Social Distancing, strikte Grenzkontrollen und Reisebeschränkungen sowie die Schließung von Einrichtungen mit viel Publikumsverkehr, wie beispielsweise Schulen oder großen Möbelmärkten – bei all diesen Maßnahmen wurde mathematisch bewiesen, daß sie funktionieren. Daneben wurden sie auch in der Praxis erprobt.

All diese Schritte bezwecken eine Reduktion der Reproduktionszahl R. Diese gibt an, wie viele weitere Personen eine infizierte Person im Mittel ansteckt. Liegt sie unter 1, so stirbt die Infektionskrankheit langsam aus, liegt sie über 1, so findet exponentielles Wachstum statt und die Infektionskrankheit wird zu einer Epidemie.

Die Bundeskanzlerin hat in der Pressekonferenz am 15. April 2020 dieses Prinzip erklärt und wird dafür von der vierten Gewalt im Staat gefeiert. Aber genau das zeigt, wie ahnungslos diese Regierung noch bis vor kurzem war. Denn die Basisreproduktionszahl, also die Reproduktionszahl zu Beginn einer Epidemie, wurde für das Coronavirus bereits am 23. Januar von der Joint Mission der WHO im optimistischsten Fall auf 1,4 und im schlimmsten Fall – auf dem Kreuzfahrtschiff „Diamond Princess“ – auf den Wert 14,8 geschätzt. Anders formuliert: Es war bereits im Januar klar, daß das Coronavirus nach dem ersten Auftreten zu einer sich schnell ausbreitenden Epidemie wird, sofern keine effektiven Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Deutschland war mit der Ergreifung von Gegenmaßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus zu zögerlich. Das hat dazu geführt, daß mildere Mittel nicht genutzt wurden und man am Ende gezwungen war, den kompletten Shutdown anzuordnen. Um es klar zu sagen: Die Zerstörung unserer Wirtschaft war nicht unvermeidbar, sondern sie wurde von dieser Regierung in an Dummheit grenzender Fahrlässigkeit verschuldet.

Wenn man allein das zuständige Bundesgesundheitsministerium betrachtet, so hat man es mit einem 700-Mann-starken Beamtenapparat zu tun. Es kann jenen in diesem Hause, die sich mit Seuchenschutz beschäftigen, nicht verborgen geblieben sein, daß das 2003 durch Sars leidgeprüfte Taiwan bereits am 31. Dezember 2019 mit der Untersuchung von aus Wuhan eingereisten Personen begann.

Das Sars-CoV-2-Virus wurde final am 13. Januar identifiziert und als komplette Genomsequenz eines Isolats des neuen Coronavirus in der NCBI-GenBank hinterlegt (GenBank-Nummer MN908947). Ebenfalls am 13. Januar 2020 wurde aus Thailand die erste laborbestätigte Coronavirus-Infektion außerhalb Chinas gemeldet.

Am 23. Januar 2020 wurde der erste Infektionsfall außerhalb von Asien in den Vereinigten Staaten von Amerika gemeldet, und China verordnete für Wuhan den kompletten Lockdown. Kurz danach beschloß man, ein Notkrankenhaus zu bauen, das am 3. Februar fertiggestellt sein sollte.

Der erste Coronavirus-Fall in Deutschland, der am 27. Januar publik wurde, ist bei den hochdynamischen Entwicklungen in Asien und weltweit als Warnsignal schon fast zu vernachlässigen. Denn das alles waren, verbunden mit der exponentiellen Entwicklung der Fallzahlen, extrem laute Alarmsignale.

Derweil wurde am 25. Januar 2020 durch ein Team um die Wissenschaftlerin Natalie M. Linton ein Forschungspapier eingereicht, das die Inkubationszeit des Coronavirus mit einer Spanne zwischen 2 und 14 Tagen angibt. Ähnliche Werte haben in dieser Zeit auch die Nationale Chinesische Gesundheitskommission und die WHO angegeben. Auch hier hätten kompetente Verantwortungsträger aufwachen müssen.

Denn bei einer Infektionskrankheit sind lange Inkubationszeiten, späte Symptombildung oder sogar das Fehlen von Symptomen sehr kritisch. Diese Eigenschaften sorgen dafür, daß eine Infektion lange unerkannt bleibt und ein Infizierter erst spät in Quarantäne kommt, so daß er vorher noch eine große Anzahl weiterer Menschen anstecken kann. Nur durch frühes und systematisches Testen kann man einen Überblick über die Infektionsketten behalten. Deutschland aber hat wertvolle Zeit und die Kontrolle über die Infektionsketten verloren. Zu diesem Zeitpunkt war man zu sehr mit der Bonpflicht beschäftigt.

Was ist von einem Staat zu erwarten, der von Politikern gelenkt wird, die in ihrer Banklehre offenbar nichts von der Exponentialfunktion gehört haben? Oder die auf E-Mails, die vor drohendem Ausverkauf von dringend benötigten Schutzgütern warnen, nicht achten?

In den Tagen Ende Januar beziehungsweise Anfang Februar hätten in Deutschland allerspätestens die gesundheitspolitischen Alarmglocken ertönen müssen. Das Virus war mit Stand zum 31. Januar bereits in 19 Ländern aufgetreten. Allen Verantwortlichen hätte klar sein müssen, daß aufgrund der internationalen Verflechtungen Deutschlands in bezug auf Personen- und Warenverkehr das Land konkret bedroht ist. Doch man war noch recht entspannt; und als erste Maßnahme der Regierung wurde am 31. Januar 2020 die Meldepflicht für Corona-Fälle in Deutschland beschlossen (Beginn ab 1. Februar).

Die nächste Maßnahme der Bundesregierung erfolgte jedoch erst über einen Monat später, am 8. März mit dem Verbot der Durchführung von Veranstaltungen mit über 1.000 Teilnehmern. Den gesamten Monat Februar blieb man untätig und widmete sich statt dessen lieber Thüringer Machtspielchen und sonstigen Eitelkeiten wie Kanzlerkandidaturen.

Es ist die Untätigkeit vom 1. Februar bis zum 17. März 2020, die die jetzigen harten Maßnahmen nötig machte, um italienische Zustände zu verhindern. Hätte man eher gehandelt und konsequent Einreisen aus Infektionsgebieten unterbunden, eine adäquate Testinfrastruktur eingeführt und Infizierte und Verdachtsfälle konsequent in Quarantäne gebracht, hätte ein Corona-Ausbruch des aktuellen Ausmaßes verhindert werden können – das sagt die Mathematik. Und diese Analyse gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für den Rest Europas und für Amerika.

Wenn man von Freunden, Familie und Verwandten hört, daß das neuartige Coronavirus ein nie dagewesenes und damit unvorhersehbares Ereignis ist, so kann man dies ohne weiteres mit wissenschaftlicher Unkenntnis entschuldigen. Wer tagtäglich ein anspruchsvolles Berufsleben führt, sich verantwortungsvoll um ältere Angehörige oder Kinder kümmert oder mitten in der Ausbildung steckt, wird schwerlich die Gelegenheit finden, regelmäßig das Epidemiologische Bulletin zu lesen.

Ein ganz anderer – viel strengerer! – Maßstab gilt für den Staat. Es ist seine Hauptaufgabe, seine Bürger zu schützen. Diesen Schutz gewährt er keineswegs kostenlos, sondern läßt ihn sich in Form von Steuern und Abgaben gut bezahlen. Doch dieser Staat hat hier krachend versagt.

Frei nach Sokrates heißt es, der Kluge lernt aus allem und von jedem, der Normale aus seinen Erfahrungen und der Dumme weiß alles besser. Und im Falle der Corona-Pandemie gilt für diesen Staat, daß er um den Verlauf und die geeigneten Gegenmaßnahmen hätte wissen können und müssen, spätestens seit Sars und Mers.

Aber was ist von einem Staat zu erwarten, der von Politikern gelenkt wird, die in ihrer Banklehre offenbar nichts von der Exponentialfunktion gehört haben? Oder die auf E-Mails, die vor drohendem Ausverkauf von dringend benötigten Schutzgütern warnen, nicht einmal achten?

Nun, der Staat kann nichts dafür. Aber die Verantwortlichen müssen zurücktreten. Und tun sie dies nicht freiwillig, so muß ein Untersuchungsausschuß sie dazu zwingen. 






Dr. Michael Espendiller, Jahrgang 1989, ist promovierter Statistiker und forschungspolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion. Er stammt aus Reken in Nordrhein-Westfalen. Im September 2017 wurde er in den Deutschen Bundestag gewählt und war bis 2019 parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion.