© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Die Vergewaltigung der islamischen Welt
Wortbrüchig gegenüber den Arabern, teilten Briten und Franzosen 1920 den Nahen Osten unter sich auf
Thomas Schäfer

Anfang 1920 war die Situation im Nahen Osten verwirrend komplex. Auf der einen Seite versuchten die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich, sich möglichst große Stücke aus der Konkursmasse des in totaler Agonie darniederliegenden Osmanischen Reiches anzueignen – so wie es das im Mai 1916 ausgehandelte geheime Sykes-Picot-Abkommen (JF 20/16) vorsah. Auf der anderen Seite forderten aber nun die Araber die im Verlaufe der Hussein-MacMahon-Korrespondenz von 1915/16 versprochene Unabhängigkeit als Lohn für ihren Aufstand gegen die Osmanen ein. Darüber hinaus bestand für Großbritannien auch die Verpflichtung, die Balfour-Deklaration von 1917 umzusetzen, mit der das Empire den Zionisten eine „nationale Heimstätte für das jüdische Volk“ in Palästina garantiert hatte.

Im März 1920 verschärfte sich die Lage dann noch insofern, als der von den Arabern einberufene Pan-Syrische Kongreß die Unabhängigkeit von Syrien und Palästina sowie des Libanons und Teilen des Iraks erklärte und Faisal al-Auwal aus der Dynastie der Haschemiten zum König von Syrien proklamierte.  

Vor diesem Hintergrund hielt der Oberste Rat der Alliierten Mächte Großbritannien, Frankreich und Italien vom 19. bis zum 26. April 1920 eine Konferenz in dem Riviera-Kurort San Remo ab, in deren Rahmen die verbindliche Aufteilung des Osmanischen Reiches beschlossen werden sollte. An der Zusammenkunft nahmen unter anderem die Premierminister der drei Siegermächte, Alexandre Millerand, David Lloyd George und Francesco Nitti, sowie Vertreter Japans, Belgiens und Griechenlands teil. Außerdem waren noch drei Beobachter aus den USA und Nuri as-Said als Gesandter Faisals anwesend.

San Remo und Sèvres waren ein „Vendettafriede“

Die Atmosphäre in San Remo wurde von den zahlreichen Pressevertretern vor Ort als sehr angespannt, ja eisig beschrieben. Der Sonderberichterstatter des Echo de Paris sprach beispielsweise von „Unterredungen ohne jede Freundlichkeit“. Trotzdem aber fanden die Teilnehmer innerhalb weniger Tage zu einer Einigung, über deren Inhalt die gemeinsame San-Remo-Resolution vom 25. April 1920 Auskunft gab. Der Oberste Rat der Alliierten Mächte billigte Frankreich das Völkerbundsmandat für Syrien und den Libanon zu, wohingegen Großbritannien das Britische Mandat Mesopotamien im Gebiet des nunmehrigen Irak und das Völkerbundsmandat für Palästina einschließlich des heutigen Jordaniens erhielt – Regelungen, die der Völkerbund dann am 24. Juli 1922 auch willfährig ratifizierte. Damit sicherte sich Großbritannien die in den Provinzen Basra, Bagdad und Mossul befindlichen Ölquellen. Den folgenden Aufstand gegen die britische Mandatsmacht an Euphrat und Tigris schlugen die Briten brutal nieder, dabei kamen über 10.000 Araber um. Die unter Befehl des damaligen britischen Kriegs- und Luftfahrtministers Winston Churchill stehende Royal Air Force wurde auch erstmals für Bombenangriffe auf die Quartiere der Aufständischen eingesetzt.

Das war natürlich ein Verrat an den Arabern, denen man lediglich den einstmals osmanischen Nadschd im kargen Inneren der Arabischen Halbinsel und den Hedschas am Ostufer des Roten Meeres überließ, wo sich die beiden heiligen Stätten des Islam, Mekka und Medina, befinden. Um ihren eklatanten Wortbruch gegenüber den Arabern mit dem Mäntelchen der Gerechtigkeit zu kaschieren, verwiesen die Briten und Franzosen unablässig auf die tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Verbrechen der Türken und deren „mörderische Tyrannei“, die derart „fürchterliche Strafen“ erforderten, „daß selbst ihre ärgsten Feinde zufrieden sein werden“.

Und so gnadenlos fielen dann auch die Bestimmungen des Vertrages von Sèvres zwischen den Siegermächten des Ersten Weltkrieges und dem Osmanischen Reich vom 10. August 1920 aus, in welche die Abmachungen von San Remo einflossen. Darüber hinaus wurden zusätzlich zu den bereits beschlossenen territorialen Amputationen noch weitere Gebietsabtrennungen zugunsten Italiens, Griechenlands und Armeniens oktroyiert und die Hoheitsrechte des Osmanischen Reiches in Nordafrika kassiert, wovon wiederum London und Paris profitierten. Ebenso sollten die Kurden in Anatolien perspektivisch einen eigenen Staat erhalten und die Gebiete rund um den Bosporus, die Dardanellen und das Marmara-Meer internationalisiert werden.

Allerdings führte der anhaltende militärische Widerstand der türkischen Nationalbewegung unter Mustafa Kemal Pascha alias Atatürk zu einer Revision mancher Bestimmungen des Diktatfriedens von Sèvres im Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1924. Das änderte freilich nichts an der Übernahme der Mandate im Nahen Osten durch Großbritannien und Frankreich. Der letzte nennenswerte Widerstand hiergegen erlosch nach der Schlacht von Maysalun nahe Damaskus am 23. Juli 1923, in der die kampfschwache Armee Faisals den französischen Kolonialtruppen unterlag.

Dabei ahnten hellsichtige Beobachter schon damals, zu welch fatalem Ende das Ganze führen würde. So schrieb die italienische Zeitung Tempo: „Das errichtete Haus ist auf Sand gebaut (…) Es gibt eine Nemesis, welche Ungerechtigkeit und Habgier binnen kurzem an den Anstiftern rächen wird.“ In San Remo und Sèvres sei ein „Vendettafriede“ geschlossen worden, der auf „die Vergewaltigung nicht nur des türkischen Volkes, sondern der ganzen islamischen Welt“ hinauslaufe: „Wen Gott verderben will, den straft er mit Blindheit.“ Die Konflikte im Nahen Osten, welche die Welt auch noch hundert Jahre nach der Konferenz von San Remo in Atem halten, sind die Folge dieser Blindheit der damaligen Siegermächte.