© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Befreiung am Dolomitensee
Wehrmachtseinheit rettete prominente SS-Gefangene
Lukas Steinwandter

Sie ist jahrzehntelang wenig beachtet oder märchenhaft umgedeutet worden: die Befreiung der SS-Sippen- und Sonderhäftlinge im Frühjahr 1945 in Südtirol. Es ist bis heute nicht restlos geklärt, warum die SS kurz vor Kriegsende 139 prominente Gefangene aus 17 Ländern in einem Luxushotel in den Dolomiten einsperren wollte. Die meisten Historiker gehen davon aus, daß der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Ernst Kaltenbrunner, sie unter der Ägide Himmlers in die geplante „Alpenfestung“ bringen lassen wollte, um sie als Köder für Friedensverhandlungen oder im Tausch für Devisen einsetzen zu können. Doch der Plan scheiterte nicht nur am schwindenden Glauben an das vermeintlich uneinnehmbare Rückzugsgebiet. Er wurde durchkreuzt – und zwar von Wehrmachtssoldaten.

Unter den Geiseln befanden sich neben Sippenhäftlingen der Familien von Stauffenberg und Goerdeler auch zahlreiche Sonderhäftlinge, darunter der frühere österreichische Kanzler Kurt Schuschnigg, der frühere französische Präsident Léon Blum sowie zwei Mitglieder des Secret Intelligence Service. Sie waren von mehreren Konzentrationslagern aus in Dachau zusammengelegt und in der Nacht zum 28. April vom Lager Reichenau mit Bussen über die Brennerroute in das nur wenige Seelen zählende Pustertaler Bergdorf Prags gebracht worden.

Weil das „Hotel Pragser Wildsee“ aber schon von drei Wehrmachtsgenerälen belegt war, mußten SS-Obersturmführer Edgar Stiller und SS-Untersturmführer Ernst Bader, der ein SD-Kommando führte, die Häftlinge ins benachbarte Niederdorf bringen. Dort gelang es einem der Gefangenen, Generalstabsoffizier Oberst Bogislaw von Bonin, am 29. April heimlich mit der Wehrmachtsleitung für Italien zu telefonieren. Diese wies den nahe von Niederdorf stationierten Hauptmann Wichard von Alvensleben an, die Gefangenen in Sicherheit zu bringen. Mit einem Stoßtrupp sowie einer 150 Mann starken Wehrmachtskompanie umstellte er das Gemeindeamt, wo die SS Quartier bezogen hatte. Selbst als die SS auszubrechen versuchte, fiel kein Schuß. Die Wehrmacht übernahm die Gefangenen und brachte sie ins mittlerweile geräumte Hotel. Als zwei Tage später die Kapitulation der deutschen Armee in Italien in Kraft trat, kamen kurz darauf US-Soldaten nach Prags. Mit ihnen Journalisten, die die Mär verbreiteten, amerikanische Soldaten hätten die prominenten Häftlinge befreit. Dabei war es die Wehrmacht, die den Männern, Frauen und Kindern Leben und Freiheit schenkte.