© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Der Flaneur
Das wär’s
Paul Leonhard

Vogelgezwitscher und Sonnenstrahlen wecken mich. Ein wunderschöner Frühlingstag kündigt sich an. Sogar der kühle Ostwind ist verschwunden, stelle ich auf dem Balkon fest. Der Baum gegenüber ist in einem zarten Rot erblüht. Auf einer halb abgestorbenen Kiefer hüpft ein kleiner gelber Vogel und tiriliert. 

Nur das rotweiße Band mit dem „Gesperrt“-Blatt irritiert immer noch. Es windet sich um die Kletterwand des Spielplatzes, um die Rutsche und die Stangen. Dürfen die das, einfach den Spielplatz sperren? Beschwert hat sich die vergangenen Wochen zumindest keiner. Der Wohnkomplex ist überaltert, der Spielplatz noch dazu kein öffentlicher. Der Hausmeister hat sogar den Sand sorgsam geharkt, wohl um Verstöße sofort zu bemerken.

Auch die Zeitung langweilt mich. Das Handy schweigt. Plötzlich röhrt eine Harley.

Wie einst an der Grenze neben dem Kolonnenweg, denke ich. Am liebsten würde ich ein paar Kinder zum Klettern animieren. Aber meine sind nicht da. Die Stimmen, die erklingen, kommen von jenseits des Zauns, wo vier junge Familien sich ein Mehrfamilienhaus teilen. Dort wird geklettert und gerade der Garten umgegraben. „Mama, ich habe einen Marienkäfer gefunden“, ruft ein kleiner Junge begeistert.

Ich lege mein Buch weg, irgendwie kann ich mich nicht konzentrieren. Ein sanfter Wind blättert jetzt statt meiner in den Seiten. Gegenüber putzt eine Frau die Fensterscheiben, eine andere hängt Wäsche auf. Ein mir bis dahin völlig Unbekannter sitzt auf der Terrasse der Dachwohnung und liest zwei Kindern Geschichten vor.

Vor mir trocknet meine Wäsche auf der Leine. Die Sonne strahlt mir ins Gesicht. Das Stadtmagazin lockt mit Kulturveranstaltungen, die ja ohnehin nicht stattfinden. Auch die Zeitung langweilt mich seit ein paar Minuten. Und das Handy schweigt. Eine Wespe hängt an der Balkonverkleidung, fällt dann tot herab. Draußen röhrt plötzlich eine Harley. Da aufspringen, das wär’s.