© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/20 / 01. Mai 2020

Die Banlieues stehen vor der Explosion
Frankreich: Die Regierung Macron läßt die Zustände in den Pariser Vororten laufen / Zweierlei Maß bei der Ausgangssperre
Jürgen Liminski

Es geschieht im Schutz der Dunkelheit. Immer wenn die Polizei gerufen wird und dann in die Viertel der Sozialbauten von Chante-loup-les-Vignes oder Seine-Saint-Denis fährt, um die Einhaltung der Ausgangssperren zu kontrollieren, findet sie zunächst leere Straßen vor – und wird dann aus dem Hinterhalt mit Steinen, Molotowcocktails oder anderen Brandsätzen beworfen. In den Nachrichten der großen Fernsehkanäle sieht und hört der Franzose nichts davon, gelegentlich erscheint ein Artikel im Figaro. Aber Journalisten sind in den Vororten nicht zu sehen, geschweige denn Kamerateams. Es ist schlicht zu gefährlich. 

Selbst Innenminister Castaner wiegelt ab 

Doch es gärt in den Vororten von Paris, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Unruhen explodieren und über die Straßengrenzen hinaus in die anderen Viertel oder gar ins Innere von Paris vordringen. Denn je länger die Ausgangssperre dauert, um so größer wird der Druck. „Es wird Plünderungen geben“, meint Jacques Nox, ein ehemaliger Polizist, der die Viertel aus seiner aktiven Zeit kennt. „Die Leute haben Hunger. Ihre Kinder bekamen in der Schule immerhin umsonst eine Mahlzeit am Tag, jetzt fehlt das Geld, um sie selbst zu ernähren.“ 

Der Polizist redet viel mit seinen ehemaligen Kollegen. „Sie sollen so wenig wie möglich in die Viertel. Nur keine Provokationen. Erst recht nicht im Ramadan.“ Man solle keine „Märtyrer produzieren“, wie jenen vierzehnmal vorbestraften Marokkaner, der von der Polizeistreife gestellt mit seinem Motorrad gegen den Polizeiwagen geprallt sei, sich dabei einen Bruch des Oberschenkels zugezogen habe und seither in den sozialen Medien als Märtyrer gefeiert werde. 

Selbst Innenminister Christophe Castaner wiegelt ab. Zwar bestreitet er nicht, daß die Polizei in Hinterhalte gelockt und dann angegriffen werde, aber das habe es auch schon vorher gegeben, und die Quarantäne sei eben „hart für die jungen Leute“. 

Aber die Polizei fühlt sich durch solche Beschwichtigungen und internen Anweisungen von oben im Stich gelassen. „Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, aus Angst vor den Islamisten und aus Angst vor den Medien“, gibt Jacques die resignative Stimmung wieder. 

Während im ganzen Land jeder Jogger oder Spaziergänger, der sich weiter als einen Kilometer von seiner Wohnung entferne, zu harten Geldstrafen verdonnert werde, passiere in den Banlieues nichts, auch wenn sich dort mehr als zehn Leute zusammen auf der Straße zeigten. Das Ergebnis dieses Verhaltens lasse sich schon an den Zahlen ablesen, in den Vororten seien die Sterberaten explodiert. 

Es mangelt an Kontrolle und Schutzausrüstung

In Seine-Saint-Denis lag sie Anfang April, also zwei Wochen nach Beginn der Ausgangssperre, in der Tat bei 60 Prozent über dem Normalniveau, in Paris selbst waren es nur 30 Prozent. Die Sperren und auch sonstigen Beschränkungen wie Abstandhalten oder Händewaschen werden kaum beachtet.

Die sozialen Folgen der Pandemie in den Vororten sind kaum abzuschätzen. Es fehlt nicht nur die Kontrolle über die Einhaltung der Maßnahmen, es mangelt auch an Schutzausrüstung, und selbst da, wo der Wille, die Pandemie wirklich ernst zu nehmen, vorhanden ist, stehen die Maßnahmen oft im Gegensatz zu den alltäglichen Bedürfnissen.

 Viele Sozialarbeiter können wegen der Beschränkungen den Kontakt mit den schwierigen Familien nicht aufrechterhalten, und es ist unklar, ob die Jugendlichen, die in den Banlieues fast die Hälfte der Bewohner ausmachen, nach der Aufhebung der Sperren wieder in die Schulen gehen. 

Nicht wenige sprachen schon vor Corona von einer verlorenen Generation. Nach den zu erwartenden Lockerungen ab dem 11. Mai wird es jedenfalls Schwierigkeiten geben, die Jugendlichen wieder „einzufangen“. In den Rathäusern der Banlieue-Gemeinden herrscht vielfach der Eindruck vor, daß die Regierung „die Dinge einfach laufen“ lasse. Dieser Eindruck hat sich nach dem Besuch des Staatspräsidenten vor gut einer Woche in dem Viertel Pantin nordöstlich von Paris verstärkt. Es bildeten sich Menschentrauben, der Präsident selbst erschien ohne Schutzmaske, seine Leibwächter trugen auch keine. Aus der PR-Aktion des Elysée wurde ein Desaster, das die in der Krise ansonsten vorherrschende Geschlossenheit der politischen KIasse in Kritik auflöste. Mittlerweile sind vier von fünf Franzosen dafür, daß eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden solle.