© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/20 / 01. Mai 2020

Es reicht das freie Willensbekenntnis
Belgien/Niederlande: Heftige Diskussionen um sterbewillige Demenzkranke und Sterbehilfe für Kinder
Mina Buts

Der belgische Romancier und Schriftsteller Hugo Claus, aus dessen Feder das großartige Sittenbild „Der Kummer von Flandern“ stammt, entschied frei über sein Lebensende – kurz und schmerzlos sollte es sein. Als bei ihm neben anderen Krankheiten auch noch eine beginnende Alzheimer-Demenz diagnostiziert worden war, entschied sich der damals 78jährige, sein Lebenswerk selbst zu vollenden: Im Beisein seiner Ehefrau und einer Freundin ließ er sich 2008 ein schnell wirkendes Gift verabreichen.

 Möglich war dies durch die im einst so katholischen Belgien seit 2002 erlaubte Tötung auf Verlangen. Ein Anrecht auf staatliche Unterstützung hat dabei jeder, der unheilbar erkrankt ist und bei dem es keine Aussicht auf Besserung gibt. Ob die Krankheit, an der der Betroffene leidet, auch zum Tod führen würde, ist dabei unerheblich. Es reicht das freie Willensbekenntnis, um den Weg des ärztlich assistierten Suizids zu gehen.

Die 38jährige Autistin Tine Nys beispielsweise hielt ihre Borderline-Erkrankung für so gravierend, daß sie 2010 mit Unterstützung von drei Ärzten ihr Leben beendete. Mehrfach hatte sie vorher erklärt, daß ihre Familie diese Entscheidung niemals mittragen und dulden würde. Und tatsächlich beschritt die Familie den Klageweg gegen das Ärzteteam, das diesen Fall von Euthanasie möglich gemacht hatte; im Februar 2020 wurde dieses nun freigesprochen.  

Nahezu jeder 20. Sterbefall ging in Belgien 2019 auf das Konto der aktiven Sterbehilfe. Die statistisch auffällige Steigerung um 12,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr ist der demographischen Entwicklung geschuldet. Die meisten der Sterbewilligen waren zwischen 60 und 89 Jahren und litten an Krebs, oft verbunden mit multiplen Vorerkrankungen.

Der Umgang mit Demenzerkrankten wird in Belgien im Moment intensiv diskutiert – können vorher getroffene Willenserklärungen zum staatlich assisitierten Suizid für diese Gruppe noch gelten? Die Liberalen, federführend in der belgischen „Corona-Regierung“, wollen eine Entfristung. Wer einmal erklärt habe, mit staatlicher Hilfe sterben zu wollen, dem dürfe dieses Recht auch bei geistiger Umnachtung nicht genommen werden. Grüne und Sozialdemokraten unterstützen den Vorstoß, einzig Christdemokraten und der Vlaams Belang haben Bedenken angemeldet.

Schon jetzt unterminieren katholische Krankenhäuser die Umsetzung der Sterbehilfe: Sie setzen stattdessen auf Palliativmaßnahmen. Maggie De Block, belgische Gesundheitsministerin, intervenierte vor wenigen Tagen, es könne nicht sein, daß Todeswünsche auf diese Weise ausgebremst und verspätet umgesetzt würden.

Auch in den Niederlanden sorgte ein Gerichtsurteil zur Sterbehilfe für neue Diskusisonen. Ein Ärzteteam, welches 2016 einer 74jährigen eine tödliche Dosis Gift verabreicht hatte, wurde vergangene Woche freigesprochen. Entschieden wurde über die Frage, ob davon ausgegangen werden könne, daß die Frau trotz einer später eingetretenen Demenz immer noch an ihrem Wunsch zu sterben festgehalten haben würde. Auch hier gab das Gericht den Ärzten recht.

Diskutiert wird in den Niederlanden gerade die Möglichkeit einer aktiven Sterbehilfe für Kinder zwischen 1 und 14 Jahren, die in Belgien übrigens seit 2018 erlaubt ist. 80 Prozent aller niederländischen Kinderärzte, so ergab eine Studie aus dem Herbst 2019, befürworten eine solche, im September 2019 wurde eine entsprechende Studie des niederländischen Parlaments in Auftrag gegeben.