© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/20 / 01. Mai 2020

Trump und die blinden Amerikaner
USA: Schon 26,4 Millionen Arbeitslose und vier Corona-Pakete für insgesamt 2,5 Billionen Dollar
Elliot Neaman

Ein indisches Gleichnis erzählt von einer Gruppe Blinder, die auf einen Elefanten stößt – ein Tier, das ihnen bislang unbekannt war. Einer, der den Rüssel betastet, findet, er ähnele einem Ast; sein Gefährte, der ein Bein betastet, sagt, es fühle sich an wie eine Säule; ein dritter betastet den Schwanz und vergleicht ihn mit einem Seil. Aber wer hat nun recht?

So in etwa erscheint die derzeitige Corona-Informationslage in den USA. Mediziner, Politiker und Ökonomen argumentieren aus unterschiedlichen Perspektiven. Während Boston, New York, Philadelphia oder New Orleans Covid-19-Hotspots sind, demonstrieren in Florida, Wisconsin, Virginia, Wyoming oder Ohio Rechte und Libertäre gegen den Shutdown. Schließlich wurden nach fünf Wochen wirtschaftlichen Stillstands vorige Woche 26,4 Millionen Arbeitslose vermeldet – das sind 4,4 Millionen mehr innerhalb einer Woche. Bis Februar lag die Zahl der wöchentlichen Arbeitslosengeldanträge unter 280.000.

Vom Virus-Verharmloser zum „Kriegspräsidenten“

Die Zahl der erfaßten Sars-CoV-2-Infizierten erreicht bald die Millionen-grenze, etwa 50.000 Menschen starben an dem Virus. Die Gouverneure der 50 sehr unterschiedlich betroffen Bundesstaaten haben mit teils widersprüchlichen Maßnahmen reagiert. Während sich die meisten in Europa und Ostasien an die Corona-Einschränkungen halten, ist in den USA eine koordinierte Reaktion auf nationaler Ebene schon deswegen schwierig, weil das Regierungsvertrauen von Staat zu Staat stark variiert.

Daran ändern auch bislang vier Hilfspakete im Gesamtumfang von 2,5 Billionen Dollar nichts – das entspricht sieben deutschen Bundeshaushalten. Donald Trump vollzog in Rekordzeit eine Kehrtwende vom Virus-Verharmloser zum „Kriegspräsidenten“. Bislang hatte eine Krise dem jeweiligen US-Präsidenten meist einen Bonus der nationalen Solidarität beschert („Rally-round-the-flag-Effekt“). Doch im Kongreß werden bereits jetzt Forderungen laut, eine Ermittlungskommission à la 9/11 anzustrengen, um aus Fehlern zu lernen und für die nächste Krise besser gerüstet zu sein. Trump-Anhänger kontern mit dem am 31. Januar in Kraft getretenen Einreiseverbot für chinesische Staatsbürger. Doch das verhinderte nicht das Einschleppen des Virus in die USA.

In die Ostküstenmetropolen kam der Erreger hauptsächlich durch Europa-Reisende, wie Forscher der Icahn School of Medicine und der Grossman School of Medicine in New York nachwiesen. Doch erst am 11. März wurden Einreisen aus Europa reglementiert. US-Bürger und Green-Card-Inhaber konnten weiter einreisen – eine Quarantäne gab es nicht. Trumps Berater John Bolton löste 2018 zudem die Taskforce zur Bekämpfung von Pandemien innerhalb des Nationalen Sicherheitsrats auf. George W. Bush hatte sie ins Leben gerufen, nachdem er sich durch John Barrys Buch „The Great Influenza“ (2006) über die Spanische Grippe von 1918/19 veranlaßt gesehen hatte, Vorkehrungen für den Fall einer erneuten Pandemie zu ergreifen.

Wie sein französischer Amtskollege Emmanuel Macron hoffte Trump auf das ursprünglich 1934 in Deutschland entwickelte Hydroxychloroquin (JF 15/20). Doch das Malaria-Mittel erwies sich nicht als Wundermittel, sondern es könnte sogar die Covid-19-Sterblichkeit erhöhen, wie nun Forscher aus South Carolina und Virginia warnen.

Daß Trump China vorwirft, bei der Pandemieeindämmung versagt und sogar die Virusausbreitung absichtlich hingenommen zu haben, soll nicht nur vom eigenen Versagen ablenken. Laut einer aktuellen Umfrage des Pew Research Center haben auch zwei Drittel der US-Bürger eine negative Sicht auf China – vor zehn Jahren waren es nur halb so viele. 71 Prozent trauen Präsident Xi Jinping nicht über den Weg. In einer solchen Krise ist aber eine globale Reaktion erforderlich, doch der Präsident will keine Brücken bauen. Die erfolgreiche Ausrottung der Pocken gelang sogar während des Kalten Krieges: Vor 40 Jahren konnte die Weltgesundheitsorganisation WHO diesen gemeinsamen Sieg offiziell verkünden. Wie in Deutschland gibt es in den USA eine Kluft zwischen Gesundheitsexperten und Ökonomen. Erstere befürworten anhaltende Kontaktverbote, Ausgangssperren und Geschäftsschließungen.

Wann findet der fiskalische Konsens ein Ende?

Im Wall Street Journal wird hingegen argumentiert, die Auswirkungen eines Shutdowns seien langfristig schädlicher als der Tod zahlreicher Amerikaner. Es wird auf die Gesundheitsfolgen von Wirtschaftskatastrophe, Arbeitslosigkeit und Armut verwiesen. Der Tod einer Minderheit sei der Preis für den Aufbau von Immunität in der Gesamtbevölkerung („Herdenimmunität“).

„Wir dürfen nicht zulassen, daß die Therapie schlimmer ist als die Krankheit“, übersetzte Trump das in seine Twitter-Sprache. Sprich: Kontaktverbote lockern, Wirtschaft öffnen und „schauen, was passiert“? Nein, dies werde nur vorsichtig je nach Bundesstaat erfolgen, verkündigte er nun auf seiner täglichen Corona-Pressekonferenz. Seine Stammwählerschaft ist älter, ärmer und schlechter versichert als der Bevölkerungsdurchschnitt. Da sind die 3.900 Dollar, die nun jede Familie mit drei Kindern als Scheck mit Trumps Namen im Postkasten oder auf dem Konto fand, zur Wahl am 3. November schnell vergessen.

Der Bernie-Sanders-Flügel der Demokraten sieht die quasi widerstandslose Verabschiedung von Billionenhilfen als Widerlegung aller Einwände gegen hohe Staatsausgaben. Afroamerikaner sterben überproportional an Covid-19, wie Daten aus Alabama, Georgia, Louisiana oder Chicago und Milwaukee zeigen. Unbestreitbar ist, daß das US-Gesundheitswesen auf eine Krise dieser Größenordnung vollkommen unvorbereitet war. Doch sobald wieder Normalität eingekehrt ist, wird der fiskalische Konsens ein Ende haben: Die US-Staatsverschuldung kletterte im April auf 24,2 Billionen Dollar – und damit über 110 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – Größenordnungen wie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Droht danach eine zweiten Große Depression wie in den 1930er Jahren? Prognosen dazu scheitern am Fehlen zuverlässiger Modelle. Falls es der Forschung gelingen sollte, einen Impfstoff zu entwickeln oder das Virus an Ansteckungskraft verliert, könnte es in den USA zu einer sehr schnellen Erholung kommen. Wenn hingegen Kontaktverbote und Ausgangssperren monatelang, oder gar bis ins kommende Jahr hinein dauern, dann könnten sich düstere Vorhersagen bewahrheiten. Eine Rückkehr zur Normalität vor Covid-19 scheint kurz und mittelfristig undenkbar.

Der Mediziner und Ökonom Jeffrey Harris von Massachusetts Institute of Technology hat aufgezeigt, daß die U-Bahn-Nutzung entscheidend zur Virusausbreitung in New York beigetragen hat. Aber ist das ein Argument gegen den öffentlichen Nahverkehr? Nicht nur US-Verschwörungstheoretiker befürchten den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Big Data (JF 5/20) zur Früherkennung des nächsten Virusausbruchs. Droht also dank Corona der allmächtige Überwachungsstaat?

Vielleicht hatte die britische Königin recht, als sie jüngst die aktuelle Lage mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verglich: Dann wissen wir heute so wenig über das Ende der Corona-Krise wie die Briten 1940 über den Kriegsausgang.






Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt europäische Geschichte an der University of San Francisco.

„The Subways Seeded the Massive Coronavirus Epidemic in New York City“: www.nber.org