© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/20 / 01. Mai 2020

Zwischen Museum und Haus des Gebetes
Paris: An Notre-Dame entzündet sich eine Diskussion über die kulturelle und geistige Zukunft Europas
Jürgen Liminski

Keine Nation“, schrieb der spanische Kulturphilosoph und scharfsinnige Beobachter gesellschaftlicher Zustände José Ortega y Gasset vor knapp hundert Jahren, „ist so katholisch, keine so antiklerikal. An den Kreuzwegen steht ein Kruzifix, Frankreich ist eine katholische Nation. Auf dem Marktplatz einer Provinzstadt aber, man nehme beispielsweise Tarbes, stößt man auf ein Denkmal, vom Sockel ragt ein kraftvoller Mann empor, er schwenkt die bronzenen Arme in rhetorischer Gebärde: Es ist Danton. Frankreich ist eine revolutionäre Nation, ist rationalistisch, antikatholisch. Beide Beurteilungen treffen zu und sind zugleich unvereinbar“. 

Ortega y Gassets Analyse des Nachbarlandes erlebt heute eine neue Bestätigung im Streit um Notre-Dame. Die einen wollen aus der verletzten Seele der katholischen Nation ein Museum machen, die anderen aus dem Kulturdenkmal des vergangenen Jahrtausends ein wiederbelebtes, schlagendes Herz des Glaubens. Beides ist Frankreich. Und auch, daß dieser Streit in den Feuilletons französischer Medien mit bekenntnisfroher Leidenschaft und kartesianischer Ratio geführt wird. Der Rektor der Kathedrale, Patrick Chauvet, früher Generalvikar der Erzdiözese, schreibt im Wochenmagazin Valeurs Actuelles: „Die Wirtschaft ist an die Stelle der Menschenwürde getreten. Wir brauchen eine Umkehr. Es ist notwendig, den Menschen wieder ins Herz der göttlichen Schöpfung zu setzen.“ Dafür stehe dieses Bauwerk und seine Reparatur.

Ein Historiker will die Kathedrale entsakralisieren 

Die mit der Reparatur befaßten Baumeister und Architekten sehen das anders. Sie wollen, wie der Architekt Jean-Marie Duthilleul, in der Kathedrale einen Ort schaffen, an dem sich das Volk versammelt, um sich selbst und seine Gemeinschaft zu feiern. Notre-Dame de Paris spreche zur Welt als Zeichen für den „Moment, als zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert die Christen die Beziehung des Menschen zu Gott neu durchdachten“. Diese Symbolkraft solle nicht nur in der Restauration, sondern auch in einer Neuordnung des gesamten Ambientes – Platz, Garten, Stadtviertel – Ausdruck finden. 

An solch einem Ort hätten natürlich auch Touristen den Platz eines Augenblicks. Sie stehen bei dem Historiker und Experten für abendländische Symbolik, Michel Pastoureau im Mittelpunkt. Er schlägt als „Lösung des geringsten Übels“ vor, die Kathedrale zu entsakralisieren und in ein Museum zu verwandeln. Das würde den Gegensatz zwischen fotografierenden Touristen und betenden Gläubigen beenden, jenes unwürdige Schauspiel, das vor dem Brand Alltag war in der Kathedrale. Und es würde dem Jahrtausendbauwerk angesichts rückläufiger Gläubigenzahlen einen dauerhaften Platz in der Geschichte Frankreichs sichern.

Man kann davon ausgehen, daß Staatspräsident Emmanuel Macron eher den historisch-musealen Gedanken zuneigt als den spirituellen. Zwar hat er die Hilfe des Staates für die Restauration von Notre-Dame zugesagt. Aber für ihn haben die Kathedralen und Kruzifixe eigentlich nur symbolischen Wert. Er hält an seinem Ziel fest, in fünf Jahren, also bis zu den Olympischen Spielen, die Arbeiten beenden zu wollen.

Das ist ein kühnes Versprechen, an das niemand wirklich glaubt. Zum einen ist nicht sicher, ob er dann noch an der Spitze Frankreichs steht. Zum anderen sind die Arbeiten durch die Corona-Krise deutlich ins Stocken geraten. Sie werden jetzt wieder aufgenommen. Aber die Beschränkungen gerade bei der jetzigen Bauphase – Demontierung des Gerüstes unter Einhaltung der neuen Abstandsgebote – verlangsamen den Prozeß merklich. Es ist zweifelhaft, ob diese Phase wie vorgesehen bis Ende des Jahres abgeschlossen werden kann. Erst dann aber läßt sich mit Gewißheit sagen, ob die Statik des Gesamtgebäudes intakt geblieben ist und ob man wie vorgesehen an die nächste Phase herangehen kann. „Die Zeit ist der Baumeister, das Volk der Maurer“, schrieb der französische Dichterfürst Victor Hugo einst über die Kathedrale, der er mit seinem Glöckner von Notre-Dame selbst ein ewiges literarisches Denkmal setzte.

Der Streit um die Zukunft des Jahrtausendwerks ist noch lange nicht beendet. Er zeigt aber auch an, daß sich an ihm eine säkuläre Diskussion für ganz Europa entzündet hat, geradezu sichtbar an dem Kran, dem größten Europas, der über der dachlosen Behausung des Glaubens schwebt. Der Erzbischof von Paris, Michel Aupetit, formuliert es in seinem Feuilleton-Beitrag für La Croix so: „Vor allen Dingen ist die Kathedrale ein Haus des Gebetes für alle Völker, und der Bischof, der hier seinen Sitz hat, muß ein Diener der Einheit der Menschen aller Rassen, Sprachen, und Nationen sein.“ Das sei eine Einheit des Geistes, nicht der „Touristenmasse“, die der Unterhaltungsindustrie und dem Reich des Konsums diene.

Hier knüpft er vielleicht unbewußt an die Gedankenkette Ortegas an, die der Spanier in seinem „Aufstand der Massen“ schon entfaltete und in dem eingangs zitierten Essay in dem Satz bündelte: „Der Katholizismus in Frankreich war und ist eine großartige Kraft, doch nicht minder kraftvoll ist sein scharfer Skeptizismus.“ Es ist eine europäische Diskussion. Man kann eigentlich dankbar dafür sein, daß es sie überhaupt gibt.