© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/20 / 01. Mai 2020

Die Lage im Spiegel der Historie erfassen
Theater im Dritten Reich, JF-Serie: Geschichtsdramen als überzeitliche Warnung vor der Tyrannei
Günter Scholdt

Im Dritten Reich feierten zahlreiche Historienstücke Premiere, verfaßt von NS-gläubigen Autoren ebenso wie ihren Gegnern, denen Geschichtsstoffe Chancen boten, durch verdeckte Analogiebildung regimefeindliche Botschaften zu versenden – zumindest bei entsprechender weltanschaulicher Voreinstellung der Zuschauer. Aber auch wo es Dramatikern zunächst nur darum ging, bedeutende Schicksale möglichst überzeugend zu gestalten, eröffneten anspruchsvolle Werke in ihrem überzeitlichen Gehalt Zuschauern Gegenwartsbezüge. Ob ein Text Subversives enthielt, läßt sich übrigens nicht einfach durch Lebensdokumente ermitteln. 

Denn sofern es sich um ernstzunehmende Autoren handelte, folgten auch Vertreter des Regimes, wobei es manche nur pro forma waren, nicht ausschließlich Politvorgaben. Zuweilen rebellierte ihr (ästhetisches) Gewissen. Oder Werke wurden im Prozeß der Gestaltung schlauer beziehungsweise moralischer als ihre Verfasser. Das gilt beispielhaft für Hans Rehberg, dessen aus fünf Dramen bestehender Preußen-Zyklus gewiß keine linientreue Parteidichtung darstellt. Zu Recht sprach der exzellente Theaterkenner Günther Rühle davon, daß seine an Shakespeare geschulte Dramaturgie auslegungsoffene Figuren schuf, die „Luft zum Atmen“ hatten:  „Er verweigerte von Anfang an die heroische Perspektive. Narren kommentierten die ersten Stücke. Seine ironischen Brechungen (…) waren in diesem Genre ungewohnt. Preußische Geschichte erschien hier nicht geschönt, sondern roh: mit Mord, Verrat, Stäupen, Köpfen, Meineid, Haß, Vertragsbruch, Kälte, mit ihren Glücks- und Unglücksfällen, menschlichen Dämonien und der Verflechtung von Haus- und Landespolitik (…) Rehberg war zwar fasziniert vom ‚Mysterium der Macht’, aber er zeigte Macht nicht nur als ein Produkt des Willens, sondern der Konstellationen, der Fügungen, des Reagierens, der Einsichten wie des Glücks und des Sichverzehrens im Dienst (…) Im Leiden zeigte sich ihm der Genius, den er in der preußischen Geschichte suchte. Friedrichs Menschlichkeit, die Fähigkeit zur Reue, zu Wiedergutmachung, zur Verarbeitung auch persönlicher Enttäuschungen machte ihn sichtbarer als jede heroische Verklärung.“

Warnungen vor skrupelloser Machtgier

Wo Rehberg immerhin noch dem erduldeten Leid Größe zusprach, lag bei anderen Geschichtsdramen ein gewichtiger Akzent auf Gefahren von Tyrannei und leichtfertiger Entfesselung der Kriegsfurie, Unterdrückung, Zensur und mutigem Widerstand. Wie beabsichtigt auch immer, boten etliche Episoden gehaltvoller Stücke Zeitgenossen bestechende Möglichkeiten, ihre prekäre Lage im Spiegel der Historie modellhaft zu erfassen. 

Das galt etwa für die Römer-Trilogie des in den letzten Kriegstagen als Moabit-Häftling liquidierten Albrecht Haushofer. In „Scipio“ (1934), „Sulla“ (1938) und „Augustus“ (1939) häufen sich – teils resignative – Warnungen vor Demagogie, skrupelloser Machtgier, zynischer Menschenverachtung, Proskriptionsterror, Spitzel- und Denunziantenwesen. Mit Catull schildert er zudem einen freiheitsbewußten verbannten Dichter.

Dessen Person steht auch im Zentrum von Walter Erich Schäfers „Das Feuer“ (1943). Auf dem Totenbett weist der Poet Cäsar die Zukunft als Verlockung und Gefahr: „Da siehst du die Welt vom Pontus bis zu den Säulen des Herkules und bis zu den Inseln, die im Nebel schwimmen. Und inmitten Rom (…) Und dann spricht der Gott: Die Erde ist dein (…) Sieh mich an. Da siehst du hinter dich. Aber der Gott ist zergangen wie eine leichte Wolke. Und hinter dir steht still und lächelnd der Tod (…) Brennen oder verbrennen, Julius Cäsar. Herrschaft und Tod. Ein Drittes wird nicht gegeben.“ 

Aktuell beziehbar war auch Bernt von Heiselers 1942 veröffentlichte Tragödie „Cäsar“ als Auseinandersetzung mit Werten wie „Gerechtigkeit“ und „Rechtsstaatlichkeit“. Obwohl das Stück das Attentat offiziell beklagt, spricht es Brutus, der auffallenderweise das letzte Wort behält, idealistische Größe zu.

Willi Schäferdieks 1939 uraufgeführtes „Wer ist mit im Spiel?“ versteht sich als „Komödie“ der französischen Republik, die 1799 durch Napoleons Staatsstreich beendet wurde. Das gekonnte Theaterstück deutet Politik als Geschäft, Volksbetrug und Ränkespiele Interessierter, bei denen der kleine Mann gut daran tut, seine Illusionen zu begraben. Wer es nicht ausschließlich auf Frankreich bezog, mochte seine Lehren daraus ziehen. 

Denselben historischen Schauplatz betrat Walter Gilbricht mit „Letizia“ (1937), ein Schauspiel über Napoleons Mutter, das bei allem Respekt für den Kaiser dem Freiheitswunsch Stimme verleiht, sowie dem Drama „Marie Charlotte Corday“ (1935). Den Mordanschlag einer opferbereiten Patriotin auf einen Demagogen emphatisch zu feiern, war in jenen Tagen gewiß so heikel wie das flammende Plädoyer gegen Staatsterror. 

Dieser Hör- und Schauspieldichter zeigte sich auch sonst couragiert. Er ist unserem literarhistorischen Bewußtsein so weit entschwunden, daß Wikipedia nichts von ihm weiß und vor einiger Zeit bei der Eingabe seines Namens noch auf „Walter Ulbricht“ verwies. Dabei gehörte Gilbricht nicht umsonst zu den Favoriten des Intendanten Hilpert und schrieb etliche Modellstücke der Historiengattung. Darunter „Michael Kohlhaas“ (1935) mit dem Fazit: „Recht ist so zart, daß es, an einer Stelle nur verletzt und sei’s auch nur durch einen Mückenstich, den ganzen Leib sich ausblutet.“ 

US-Präsident Lincoln als Antipode zu Hitler

Eine Tat war auch sein 1939 uraufgeführtes Drama „Abraham Lincoln“. Es bietet keine direkte Verschlüsselung aktuellen Geschehens, sondern eine Kontrafaktur NS-deutschen Politikverständnisses. Schon das Thema der Schwarzen-Befreiung wirkte antirassistisch. Der Autor zeichnete schließlich die Vertreter der Sklavenherrschaft als bequem gewordene ökonomische Nutznießer und dünkelhafte verarmte Arbeitsscheue oder spottet über deren „Grandezza des Blutes“. Die rassenfanatischen Lincoln-Attentäter gerieren sich als bornierte politromantische Dummköpfe und eitle Schauspieler.

In Sachen Sezessionskrieg stellt auch dieses Drama die Einheit der Nation über alles. Aber danach möge mit der Ausgrenzung der Unterlegenen Schluß sein. Denn wenn „sich die Union nicht aus all dem Blut und Leiden gefestigter denn je erhöbe, würde der Gefallene zum Ermordeten, der Kämpfer zum Mörder, der Krieg ein Gemetzel ohne Sinn“.

Insgesamt zeigt dieses Stück den US-Präsidenten geradezu als Antipoden des deutschen „Führers“. Lincoln ist demnach ein wahrhaft humaner Herrscher, uneitel, kein Prinzipienreiter, schelmisch und humorvoll, ein Politiker, der warten kann und sich nicht zu Taten provozieren läßt, auch wenn er seinen Ministern zuweilen als entscheidungsschwacher Cunctator gilt. So weigert er sich (auch aus taktischem Kalkül), die Schuld auf sich zu nehmen, den Bürgerkrieg begonnen zu haben, lehnt es ab, als „Hasardeur“, „Draufgänger“ oder „Brandstifter“ zu agieren um eines (scheinbaren) kurzfristigen Vorteils willen: „Mut allein kann zögern.“

Dem Mythos „Volk“ gegenüber ist er illusionslos und glaubt an Erfolge eher durch Evolution als durch revolutionäre Tat. Auch im Krieg kennt Lincoln kein mitleidloses Entweder-Oder und läßt sich durch das Elend einzelner Schicksale rühren, wo Unerbittlichkeit rein militärisch geboten wäre. Auf den Vorwurf, so viele Deserteure zu begnadigen, antwortet er seinem Verteidigungsminister: „Sie schreiben Urteile auf sauberes Papier und überlassen mir, diese Urteile durch meine Unterschrift rechtsgültig zu machen. Sie sehen nur das Gesetz – aber zu mir kommen die Menschen, die dieses Gesetz trifft. Eine Mutter, ein Großvater, ein Bruder. Dieses Zimmer ist der Schauplatz von Tränen und Verzweiflung. Glauben Sie, daß ich in diesen Augenblicken mich auf ein Buch zurückziehen und mit dem Finger auf einen Paragraphen diesem Jammer begegnen kann? … (Sehr leise) Ich bin auch nur ein Mensch.“ 

Seine unbedingte Treue zur Verfassung übertönt seine Furcht, abgewählt zu werden: „Wahl schafft Vertrauen und Vertrauen ist Kraft – die einzige übrigens, die auch Niederlagen übersteht.“ Die US-Demokratie vermeidet, nach Gilbrichts Stück, selbst unter schärfsten Konkurrenten einen Freund-Feind-Gegensatz. Lincolns unterlegener Präsidentschaftsbewerber entschließt sich daher, ihn von nun an grundsätzlich zu unterstützen, um die Nation keiner Zerreißprobe auszusetzen. Über Lincoln sagt er: „Er war nur ein Gegner – kein Antipode! Uns trennte der Weg, nicht das Ziel.“ 

Ziemlich am Ende feiert das Stück das Ideal eines Journalisten, dem man das Kompliment macht, er wisse „nicht nur zu lügen, sondern auch zu sterben“. Dessen Antwort lautet: „Wir Journalisten wissen zuweilen etwas weit Gefährlicheres.“ Nämlich: „Die Wahrheit zu schreiben.“ Von der Relotius-Presse ahnte Gilbricht noch nichts.






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration wird in loser Folge fortgesetzt.