© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/20 / 01. Mai 2020

Der historische Raum ist größer
Am 1. Mai 1920 wurde das Land Thüringen gegründet
Paul Leonhard

Hundert Jahre Freistaat Thüringen sind Anlaß genug, um die Numismatiker mit einer Jubiläumsprägung aus Silber zu erfreuen. Diese zeigt das Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar und „die faszinierende Skyline“ von Erfurt. Damit sind beide Metropolen des kleinen Bundeslandes – 16.000 Quadratkilometer, 2,1 Millionen Einwohner – berücksichtigt. Denn als das Land Thüringen am 1. Mai 1920 von sieben bis dahin selbständigen Republiken – nämlich den Freistaaten Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-Rudolstadt, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Gotha und Schwarzburg-Sondershausen sowie dem Volksstaat Reuß – aus der Taufe gehoben wurde, fiel die Wahl auf Weimar als Hauptstadt. Der Regierungsbezirk Erfurt war zu diesem Zeitpunkt noch preußisch und gelangte erst 1945 zu Thüringen, dargestellt durch den achten Stern im Landeswappen.

Trotz der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses versank das Land in einer Identitätskrise. Seit dem Thüringerreich des frühen 6. Jahrhundert hatte es kein zusammenhängendes Herrschaftsgebiet mehr gegeben. Die kunstsinnigen kleinen Fürstenhäuser aber hatten allesamt bis zum 25. November 1918 abgedankt. So radikalisierten sich Teile der Bevölkerung. 1923 ließ die Berliner Zentralregierung die Reichswehr einmarschieren, um die am 6. November gebildete Landesregierung aus SPD und KPD abzusetzen. Seitdem wechselten die Regierungen ständig, bis sich 1930 eine mit NSDAP-Beteiligung etablierte. Drei Jahre später war das Land als Gau gleichgeschaltet und sollte lediglich zwischen den beiden Diktaturen kurzzeitig auferstehen, von 1945 bis 1952.

Erst 1990 war der Weg frei für eine Wiedergeburt Thüringens. Geformt wurde es aus den DDR-Bezirken Erfurt, Gera und Suhl sowie einigen angrenzenden Gebieten (Altenburg, Schmölln, Artern). Drei Jahre später gab es sich den Zusatz „Freistaat“. Und obwohl die Region entlang Saale und Mittelelbe, zwischen Thüringer Wald, Erzgebirge, Fläming und Harz seit dem 13. Jahrhundert eine gemeinsame Geschichte hat, einen weitgehend einheitlichen Kultur- und Wirtschaftsraum bildet und mehr als 700 Jahre die Wettiner von der Wartburg bis zur östlichen Lausitz herrschten, stellt man sich in Erfurt (wie auch in Dresden) taub, wenn aus Sachsen-Anhalt alle paar Jahre Fusionsangebote zu einem Bundesland Mitteldeutschland kommen. Ihren Ursprung haben diese in einer Denkschrift, die fast so alt ist wie der Freistaat Thüringen: 1927 hatte sie der provinzsächsische Landeshauptmann Erhard Hübener während der Reichsreformdebatte formuliert.