© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/20 / 08. Mai 2020

Deutschland, ein Flickenteppich
Jeder macht seins: Die Bundesländer lockern in unterschiedlichem Tempo die coronabedingten Einschränkungen / Wirtschaft macht Druck
Jörg Kürschner

Konfrontiert mit einem Lockerungs-Wettlauf der Länder und in Bedrängnis geraten durch zahlreiche widerstreitende Gerichtsurteile, massive Vorwürfe der Wirtschaft und verstärkte Kritik der Opposition hat die Bundesregierung mit den Länderchefs am Mittwoch weitere Lockerungen beim Besuch von Kitas, Schulen, Sport- und Gaststätten beschlossen. Die Telefonschaltkonferenz war geprägt von einer am Wochenende begonnenen vielstimmigen „Öffnungsdiskussionsorgie“ der 16 Länderchefs, die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eigentlich hatte abwürgen wollen und die sie nun brüskierte.

Laschet folgt jetzt eigenen Kanzler-Ambitionen

Den Anfang machte ausgerechnet das im Länderkonzert eher unauffällige Sachsen-Anhalt. „Wir gehen unseren eigenen Sachsen-Anhalt-Weg“, traute sich Ministerpräsident Reiner Haseloff aus der Deckung, nur einen Tag nach der Bund-Länder-Videokonferenz Ende April. Gelockert waren dort die Regeln für Spielplätze, Friseure, Zoos und Gottesdienste. Bei Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln dürfen sich seit Montag  zwischen Arendsee und Zeitz wieder Gruppen von bis zu fünf Menschen treffen, auch wenn sie nicht zusammen wohnen. Grund für die Lockerungen seien die niedrigen Infektionszahlen, rechtfertigte der CDU-Politiker seinen Alleingang. Weggefallen ist wie auch im Saarland die umstrittene 800-Quadratmeter-Regelung, so daß jetzt wieder jedes Geschäft unabhängig von seiner Größe öffnen darf. 

Die geringen Infektionszahlen haben auch in der Schweriner Staatskanzlei für ein Umdenken gesorgt. Hatte Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) zu Krisenbeginn mit rigiden Einreisebeschränkungen und Ausreiseaufforderungen an Besitzer von Zweitwohnungen Erinnerungen an die unselige DDR-Vergangenheit geweckt, zeigte sie sich jetzt von ihrer gastfreundlichen Seite. Pünktlich zu Pfingsten sind an Ostsee und Seenplatte wieder alle Urlauber willkommen. Und Merkel hatte zu registrieren, daß ihr treuer Weggefährte in Sachen Flüchtlingspolitik, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, jetzt eigenen Kanzler-Ambitionen folgt. „Der „Lockerungsbeauftragte“, wie er CDU-intern genannt wird, hatte für Menschengewimmel in geöffneten Möbelmärkten und Babyfachmärkten gesorgt. „NRW ist das Land der Küchenbauer“, hatte der CDU-Vize dem verdutzten Parteipräsidium treuherzig versichert. Und dessen Familienminister Joachim Stamp drohte unverhohlen mit einem Sonderweg in Sachen Kita-Öffnung, sollte sich Merkel mit den Regierungschefs nicht auf eine einheitliche Regelung verständigen. „Wir lassen uns nicht noch eine Woche vertrösten“, so die unverblümte Ansage des FDP-Mannes. 

Niedersachsens Landeschef Stephan Weil (SPD) erfreute seine Landsleute zwischen Ems und Elbe mit einem Stufenplan, der ab Montag eine gedrosselte Öffnung der Gastronomie und später Lockerungen im Hotelgewerbe und bei Ferienwohnungen vorsieht. Auf Merkels Kurs einer zögerlichen Rücknahme der massiven Grundrechtseingriffe blieben Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der sich „unglücklich“ zeigte über das Vorpreschen seiner Kollegen. Kein Wunder, hätte er doch  als derzeitiger Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz den vielfach befürchteten Flickenteppich verhindern müssen. Was allerdings dem forschen Bayer nur zum Teil angelastet werden kann. Mehrere Gerichte, zuletzt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, hatten Ausgangsbeschränkungen als unverhältnismäßig gerügt und diese aufgehoben oder zugunsten der Kläger ausgelegt. Später beschloß auch das bayerische Kabinett Lockerungen.

Der Unmut war noch gewachsen, da Merkel und ihr Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) während des vorherigen Bund-Länder-Treffens irrtümlich zu hohe Infektionszahlen genannt hatten. Merkel sprach von 40.000 akut Infizierten, tatsächlich waren auf der Basis der Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) nur gut 29.000 Menschen infektiös. Spahn mußte einen Rechenfehler einräumen. Eine Steilvorlage für den FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, einen der schärfsten Kritiker der Krisenpolitik der Regierung. Der Vize-Parteichef unterstellte RKI-Präsident Lothar Wieler sogar, politisch motivierte Zahlen vorzulegen. Dabei bezog sich der Bundestagsvizepräsident insbesondere auf die Reproduktionszahl, auch als Ansteckungsrate oder R-Wert bekannt. „Der R-Wert des RKI steigt ausgerechnet zur Konferenz der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten, bei der vor weiteren Lockerungen gewarnt werden soll“. Kubickis Fundamental-Attacke hatte das Zeug, der AfD ihre angestammte Rolle als Hauptkritikerin der Koalition streitig zu machen. Doch da nutzte Co-Fraktionschefin Alice Weidel Spahns Vorstoß für einen Immunitätsausweis. Damit sollten Bürger nachweisen, ob sie gegen das Coronavirus immun sind. Ein „weiterer Übergriff auf die Freiheitsrechte der Bürger und die informationelle Selbstbestimmung“, befand Fraktionschefin Alice Weidel. Auch der Koalitionspartner SPD lehnte das Vorhaben ab.

Kritik an Merkels Krisenpolitik  wurde auch in der CDU/CSU-Fraktion laut, etwa durch Ex-Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU). „Die Stimmung ist längst am Kippen, weil wir uns selbst ruinieren“, griff er den von der Wirtschaft ultimativ geforderten Ausstiegsplan aus den Anti-Corona-Maßnahmen auf. Jede Woche koste die deutsche Volkswirtschaft einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag an Wertschöpfung – so das Alarmsignal des Industrieverbandes BDI. „Merkel bei Fuß“ stand immerhin ihr einstiger Dauerkritiker Horst Seehofer (CSU), der ihr Krisenmanagement ausdrücklich lobte und die Grenzkontrollen bis zum 15. Mai verlängerte, um die Infektionsgefahren einzudämmen.