© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/20 / 08. Mai 2020

Am Anfang stand eine Lüge
Schüsse statt Argumente: Die gewaltsame Befreiung Andreas Baaders 1970 gilt als Gründungsdatum der RAF
Martina Meckelein

Viele Deutsche nannten sie mit Abscheu die Baader-Meinhof-Bande. Sie selbst bezeichneten sich als Rote Armee Fraktion. Diese Auswüchse kranker Bourgeoisie wurden noch während ihrer Mordtaten vom befreundeten linken Kulturmilieu, bestehend aus Journalisten, Schriftstellern und Regisseuren, zu kommunistischen Freiheitshelden hochgejazzt. Dabei waren sie nur rotlackierte Parvenüs, die eben nicht im Proletariat verhaftet waren, zu dessen Wohl sie doch angeblich den bewaffneten Kampf gegen den „Bullenstaat“ führten. Die Entstehung dieser linksextremen Terrortruppe hat einen Gründungsmythos und ein Datum.

 Der 14. Mai 1970 ist ein Donnerstag. In Saarbrücken wird Willy Brandt auf dem SPD-Bundesparteitag als Parteivorsitzender wiedergewählt. Im Himalaja gelingt zwei japanischen Seilschaften die fünfte Besteigung des Mount Everest. Im West-Berliner Stadtteil Dahlem scheint die Sonne. Hier treffen sich vormittags im Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) Ulrike Meinhof und Andreas Baader im Lesesaal. Meinhof ist eine hofierte Journalistin der linken Zeitschrift Konkret, ein in den Anfängen von der DDR finanziertes, aggressives Studentenblatt mit zunehmend pornographischen Fotos. Andreas Baader ist ein zu drei Jahren Haft verurteilter Brandstifter. Am 2. April 1968 hatte er mit drei Mittätern, darunter Gudrun Ensslin, Brandsätze mit Zeitzündern in zwei Kaufhäusern in Frankfurt deponiert. Damit wollten die Täter gegen „den Konsum“ und den Vietnamkrieg protestieren. Es entstand hoher Sachschaden.

Vorbild war der Brüsseler Kaufhausbrand von 1967 mit 322 Toten. Die Gruppe wird schnell verhaftet. Meinhof ist Prozeßbeobachterin, lernt während der Verhandlung Baader, Ensslin sowie den Anwalt und späteren RAF-Mitterroristen Horst Mahler kennen. Sie ist fasziniert. Baader und Ensslin tauchen vor Haftantritt unter. Sie verstecken sich bei Meinhof in Berlin-Schöneberg. Baader wird jedoch am 4. April 1970 auf dem Weg zu einem fingierten Waffenkauf mit dem Verfassungsschutzspitzel Peter Urbach festgenommen.

Die Frauen schmieden den Plan, Baader zu befreien. Damit er aus dem Gefängnis Berlin-Tegel in die Dahlemer Bibliothek verbracht wird, gibt die Journalistin Meinhof vor, gemeinsam mit dem Verurteilten ein Buchprojekt über „randständige Jugendliche“ zu realisieren. Die Täuschung gelingt. 

Baader wird um 9.45 Uhr in den Lesesaal geführt. Um 11 Uhr stürmen vier Personen in das Gebäude. Es sind die maskierte Gudrun Ensslin, die Studentin Ingrid Schubert, die Schülerin Irene Goergens und ein ebenfalls maskierter Mann, der bis heute nicht identifiziert ist. Der Unbekannte feuert auf den Bibliothekar Georg Linke, der schwer verletzt überlebt. Weitere Schüsse des Überfallkommandos verletzen auch den Wachmann Günter Wetter lebensgefährlich. Im Tumult entkommen alle sechs.

Angeblich sollte es abgemacht gewesen sein, daß Meinhof nicht gemeinsam mit den anderen flieht. Doch sie springt mit Baader aus einem niedrig gelegenen Fenster. Tags darauf läßt Meinhof ihre beiden kleinen Töchter Regina und Bettina nach Bremen bringen. Ihr geschiedener Mann, der Konkret-Verleger Klaus Rainer Röhl, ahnt Schlimmes, alarmiert Interpol. Anfang Juni werden die Kinder heimlich nach Sizilien verbracht, Baader, Enss­lin, Mahler und Meinhof fliegen über Ost-Berlin weiter nach Jordanien in ein Guerillalager der palästinensischen Fatah, erhalten dort militärische Ausbildung. Nach der Rückkehr in die Bundesrepublik beginnen Banküberfälle und Einbrüche in Waffendepots.

Meinhof schreibt an Strategiepapieren. Im Juni 1970 erscheint „Die Rote Armee aufbauen“, am Jahresende erarbeitet sie „Das Konzept Stadtguerilla“. Der weitere Weg in Verbrechen scheint zementiert. Den Bruch in Meinhofs Leben bezeichnete der Theologe Helmut Thielicke einmal als „luziferischen Absturz“. Die RAF-Bilanz der ersten Mitglieder-Generation bis 1975: Bei Überfällen und Bombenanschlägen ermordeten die Terroristen vier Menschen, 41 wurden verletzt.