© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/20 / 08. Mai 2020

Gebremst, aber nicht gestoppt
Schweden: Das liberale Königreich verzeichnet pro Einwohner dreimal mehr Pandemie-Tote als seine Nachbarn und könnte trotzdem ein Zukunftsmodell sein
Christoph Arndt

Während nahezu alle westlichen Länder eine Form von „Lockdown“ und restriktive Maßnahmen zur sozialen Distanzierung als Strategie zur Eindämmung des Coronavirus einführten, wählte Schweden eine alternative Linie mit einer auf den ersten Blick wesentlich liberaleren Eindämmungspolitik. Dies wurde von diversen Wissenschaftlern und Politikern, nicht zuletzt dem US-Präsidenten Donald Trump, öffentlich kritisiert.

Schwedens rot-grüne Regierung hatte im Gegensatz zu fast allen OECD-Ländern Kindergärten, Schulen und Restaurants nicht vollständig schließen lassen und Ende März zumeist nur Handlungs- und Hygieneempfehlungen an die Bürger gegeben, um das Virus einzudämmen und dabei das Gesundheitssystem nicht zu belasten. Auch die Versammlungsbeschränkungen sind deutlich liberaler als in vielen deutschen Bundesländern oder dem Nachbarland Dänemark, welches bereits am 17. März ein vorübergehendes Verbot von Versammlungen und Aktivitäten mit mehr als zehn Personen verordnete. In Schweden waren zunächst nur Versammlungen mit mehr als 500 Personen verboten, die Schwelle wurde dann am 29. März auf 50 Personen gesenkt, so daß etwa größere Familienzusammenkünfte nach wie vor abgehalten werden konnten.

Die Kritiker verweisen hauptsächlich auf die im Vergleich mit den Nachbarländern Dänemark, Finnland und Norwegen höhere Sterblichkeitsrate durch Corona. So gab es Anfang Mai in Schweden laut Berechnungen der Johns Hopkins University 26 Corona-Tote auf 100.000 Einwohner, während Dänemark lediglich acht Corona-Tote auf 100.000 Einwohner verzeichnete. Finnland und Norwegen hatten mit vier Toten je 100.000 Einwohner nur ein Fünftel der schwedischen Sterblichkeitsrate durch Corona zu verzeichnen. Insgesamt hat das Virus mittlerweile über 2.800 Menschenleben in Schweden gekostet, mehr als in allen nordischen Ländern zusammen. Im Vergleich mit den Bruderländern scheint die schwedische Strategie somit gescheitert zu sein.

Andererseits haben südeuropäische Länder wie Italien oder Spanien trotz ihrer deutlich restriktiveren Eindämmungspolitik eine höhere Sterblichkeitsrate durch die Krankheit als Schweden. Somit ist ein vollständiger „Lockdown“ keine Garantie für eine niedrige Sterblichkeitsrate, auch wenn Schwedens Politik international kaum Beifall fand.

Pandemie-Politik könnte laut WHO Schule machen

Zudem ist die in der Corona-Debatte vielbeachtete Reproduktionszahl laut dem verantwortlichen Staatsepidemiologen Anders Tegnell seit dem 21. April auf unter eins gesunken, somit schwächt sich die Ausbreitung des Virus in Schweden zunehmend ab.

Trotz der internationalen Kritik hat es deshalb bei der Weltgesundheitsorganisation WHO einen Meinungswandel hinsichtlich der schwedischen Corona-Politik gegeben. Laut ihres Exekutiv­direktors für das Katastrophenprogramm, Michael Ryan, kann Schweden ein Zukunftsmodell für Pandemiebekämpfung darstellen. 

Ryan betonte auf einer Pressekonferenz am 3. Mai, daß das Land trotz des Verzichts auf einen kompletten „Lockdown“ mit gezielten Handlungsempfehlungen und Kontrollmechanismen wie einem Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen die Verbreitung des Virus eingedämmt habe. Dabei habe sich Schweden hauptsächlich auf die eigenen Mitbürger bei der Selbstregulierung sozialer Kontakte und Anwendung von Hygienemaßnahmen in betroffenen Gebieten und Landesteilen verlassen. Zudem gibt es eine Empfehlung, alle nicht notwendigen Inlandsreisen zu unterlassen. Die Handlungsempfehlungen des Staates werden weitgehend akzeptiert und umgesetzt, was sich letztlich in der zurückgehenden Ansteckungsrate widerspiegele.

Diesbezüglich haben die Schweden sehr hohes Vertrauen in den Staat und dessen Institutionen, wie viele vergleichende politikwissenschaftliche Untersuchungen immer wieder belegen.

Dennoch ist das nordische Land nicht über den Berg. So warnte Ministerpräsident Stefan Löfven in seiner virtuellen Ansprache zum 1. Mai vor einer langanhaltenden Krise, die noch weit über den Sommer andauern könnte und weitere Menschenleben kosten werde. Zudem stellte die schwedische Arbeitsvermittlung am 4. Mai ein Negativszenario vor, wonach die Arbeitslosigkeit bei ungünstigem Pandemieverlauf im September 14 Prozent erreichen könnte. Eine offene Frage ist diesbezüglich, ob Länder mit restriktiveren Eindämmungsmaßnahmen einen noch höheren wirtschaftlichen Preis zahlen müssen, oder ob Schwedens liberalere Corona-Politik die nachhaltige Eindämmung verzögert, so daß die Wirtschaft in anderen Ländern schneller in den Normalbetrieb übergehen kann.