© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/20 / 08. Mai 2020

Es gibt keine Würde ohne Freiheit
Vergänglichkeit und Angstwahn: Was wir in der Corona-Krise von Hermann Hesse lernen können
Dietmar Mehrens

Wer die wenigen Tage zwischen Filmstart und Kinoverbot nutzte, um sich die Verfilmung von Hermann Hesses „Narziß und Goldmund“ anzuschauen, dürfte beim Ausbruch der „Corona“-Krise ein kleines Aha-Erlebnis gehabt haben: In der Filmmitte wütet die Pest. Tod und Vergänglichkeit, mit denen der Vagabund Goldmund auf seiner Wanderschaft permanent konfrontiert wird, sind ein zentrales Thema des Romans.

Hesse, Sohn evangelischer Missionare, stellt in seiner Darstellung des Grauens eine Verbindung her zwischen „wütendem Tod“ und „irrem Angstwahn“. Als Angstwahn bezeichnet er die Reaktion des deutschen Durchschnittsbürgers auf des Wüten des Würgeengels: Ein Bischof ergreift panisch die Flucht, anstatt seinen Schäflein gerade in der Stunde der Bedrängnis beizustehen. Es gibt Leichenfledderei, Zechgelage, Pogrome und Mord. Diesem Angstwahn gegenübergestellt wird die burschikose Unbekümmertheit des Unbehausten. Über Goldmund heißt es lakonisch: „Furcht fühlte er nicht.“

Doch es ist nicht Naivität, die den Vagabunden so wenig panisch reagieren läßt, es ist das Gegenteil: ein klares Bewußtsein von der eigenen Endlichkeit und Todverfallenheit. Er hat in früheren Begegnungen mit dem ungeliebten Gevatter begriffen, daß der Tod ein integraler Bestandteil des Daseins ist, den man nicht abwimmeln kann wie einen ungebetenen Gast, der vor der Tür steht. Eine unbegreifliche Neugierde, ein Verlangen, „dem Schnitter zuzusehen, das Lied der Vergänglichkeit zu hören“, treibt den Lebemann mitten hinein in das Toben des Todes. Das Schlimmste sind bei seinen Streifzügen durch das verseuchte Land aber nicht die Toten: „Das Schlimmste waren die Lebenden, die unter der Last von Schrecken und Todesangst ihre Augen und ihre Seelen verloren zu haben schienen.“

Das sind Worte, die aufhorchen lassen. Sie führen mitten hinein in unser von „Corona“ aus den Angeln gehobenes Gemeinwesen. Sie führen zu der Frage, wie eine Demokratie aussehen müßte, die ihre Seele und den Blick fürs Wesentliche verloren hat. 

In seiner Focus-Kolumne schrieb der Journalist Jan Fleischhauer in der Woche nach Ostern über die Sorge, die Zustimmungswerte zur Freiheitsquarantäne von um die neunzig Prozent bei ihm ausgelöst haben, Werte wie auf einem SED-Parteitag. Man fühlt sich an ein bekanntes soziologisches Experiment erinnert: Wenn sich in einem Wartesaal zehn Leute befinden, von denen acht nach vorheriger Absprache zu einem bestimmten Zeitpunkt ohne erkennbaren Grund aufstehen, dann liegt die Wahrscheinlichkeit, daß die beiden verbleibenden Nicht-Eingeweihten kurz darauf ebenfalls stehen, im Bereich jener neunzig Prozent, die Merkels Corona-Kurs Beifall spenden. Ein Zyniker würde sagen: Mit Charakterlosigkeit eckt man eben weniger an als mit einem eigenen Kopf. Wer möchte schon gern mit dem Etikett „Verschwörungstheoretiker“ auf der Stirn herumrennen?

Eine wichtige Rolle als Korrektiv für totalitäre Tendenzen spielt in Demokratien die freie Presse. Wird sie von den Mächtigen kontrolliert, kann die Freiheit in der Regel schon mal die Koffer packen. Insofern stimmt es nachdenklich, wenn sich eine Oppositionspartei wie die FDP bei „Report München“ (ARD) als Lohn für ihr Pochen auf Respekt vor den Bürgerrechten den hämischen Hinweis auf sinkende Umfragewerte einhandelt.

Skepsis ist immer auch angesagt, wenn Staaten auf einmal die Moral als Triebfeder ihrer Politik entdecken. „Wir müssen unsere Alten schützen“, schallt es landauf, landab durch die Republik. Es fehlt freilich die Erklärung, warum man Menschen, die noch durchschnittlich achtzig Jahre Lebenszeit vor sich haben – die Ungeborenen, die in Abtreibungskliniken in Serie sterben müssen –, für überhaupt nicht schutzwürdig hält, während für Menschen, deren Durchschnitts­alter achtzig Jahre beträgt (das ist laut Robert-Koch-Institut das Durchschnitts­alter der „Corona“-Toten), auf einmal kein Opfer zu groß ist. Wie ist dieses Messen mit zweierlei Maß vereinbar mit dem Argument der „Corona“-Zwangsmaßnahmen-Befürworter, daß Menschenwürde keine Altersgrenze kenne? Manifestiert sich hier nicht eine besorgniserregende doppelte Moral?

Ist ein Leben in Trennungsschmerz und Isolation wirklich so viel mehr wert als ein Tod, der mich im Zustand der Geborgenheit im Kreise meiner Vertrauten ereilt? Könnte man es nicht auch als würdelos empfinden, wenn sich Menschen mit vielen Jahrzehnten Lebenserfahrung plötzlich wie unmündige Kinder vorschreiben lassen müssen, was sie zu tun und zu lassen haben? Verbirgt sich hinter solchem staatlichen Gebaren nicht eine unerhörte Arroganz? Man soll nicht immer böse Motive unterstellen, aber vieles spricht dafür, daß es den Regierenden um etwas völlig anderes geht als das Retten von Menschenleben, nämlich das Retten der eigenen Macht vor der Macht der Bilder, die skandalsüchtige Medien wie eine biblische Plage auf sie loslassen würden, würden sie sie nicht um jeden Preis – auch den demokratischer Grundrechte – verhindern. Das wiederum bedeutet, daß wir es letztlich mit erpreßbaren politischen Eliten zu tun haben, denen im Angstwahn alles zuzutrauen ist. Keine gute Gemengelage für Freiheit und Demokratie. 

Sollte dieser beunruhigende Befund stimmen – was tun gegen diese Erpreßbarkeit? Die Suche nach einer Antwort darauf führt zurück zu Goldmund, dem ruhelosen Helden aus Hesses wunderbarer Erzählung. Goldmund hat durch sein intensives, reiches Leben eine innere Freiheit errungen, die auch die Bibel kennt. Sie ist gemeint, wenn Jesus davon spricht, daß das Leben verlieren werde, wer es zu erhalten trachte (Mth. 16,25). Oder davon, daß man nicht Angst haben solle vor denen, die den Leib töten können, nicht aber die Seele (Mth. 10,28). Oder davon, daß es dem Menschen nichts nütze, die ganze Welt zu gewinnen, wenn er dabei Schaden nähme an seiner Seele (Mth. 16,26). Die Wortwahl gleicht der Hesses, der die Zeit der Pest eine „Seelenverfinsterung“ nennt. Man meint eine gewisse Verachtung des feinsinnigen Seelenerkunders heraushören zu können für Menschen, denen jede geistig-transzendente Dimension des Lebens verschlossen geblieben ist. Sie sind beklagenswert unfreie Wesen, denen nichts heilig ist als ihre nackte und bloße Erdenexistenz.

Freiheit, versucht Hesse zu zeigen, entsteht aus der Bejahung der eigenen Begrenztheit und Vergänglichkeit und der Einsicht in das Größere, in das die eigene Existenz eingebettet ist. Freiheit, versucht Jesus zu zeigen, gibt es nicht, wenn das Vergängliche absolut gesetzt wird. Denn am Ende lauert immer das Gefängnis des Todes.