© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Ins Unkenntliche verzerrt
EZB-Urteil: Was bedeutet die Entscheidung für die EU-Staaten wirklich?
David Engels

Am 5. Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) angesichts des stetig erweiterten europäischen Anleihenkaufprogramms nicht nur die EZB für die Unverhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen im Vergleich zu ihren vorgeschriebenen Ziele gerügt, sondern auch den EuGH kritisiert: Dieser habe durch die Unterstützung der EZB seine Kompetenzen überschritten.

Seitdem tobt ein Sturm durch die europäischen Institutionen, wobei sich bezeichnenderweise nicht die eigentliche Frage des Kaufprogramms im Zentrum befindet, sondern vielmehr die Auswirkungen des Entscheids auf den inneren Zusammenhalt der EU. Denn es steht wohl außer Frage, daß das BVerfG ohnehin recht bald sein Verdikt korrigieren wird, hatte es doch in seinem Urteil die EZB eingeladen, die Verhältnismäßigkeitsprüfung nachzuholen: Das sollte mit ein wenig Rabulistik kein Problem darstellen, zumal notfalls der EuGH der EZB und sich selbst gerne einen Freifahrtschein ausstellen wird.

Nein, das wahre Problem liegt wieder einmal in der „Gefahr von rechts“, in diesem Falle den Regierungen der Visegradstaaten, wo Qualitätsmedien wie dem Spiegel zufolge „Osteuropas Rechtspopulisten über deutsche Richter jubeln“, und zwar weil sie nunmehr die Karlsruher Sorge um die Kompetenzüberschreitung des EuGH zum Vorwand nehmen können, selber ungestört den „Rechtsstaat auszuhebeln“.

In der tatsächlichen Diktion des polnischen Premiers liest es sich allerdings so: Das Karlsruher Urteil habe daran erinnert, daß „die [EU-]Verträge von den Mitgliedsstaaten geschaffen [werden] und sie bestimmen, wo für die Organe der EU die Kompetenzgrenzen liegen“; ohne Gewaltenteilung werde „jede Gewalt, auch die der Gerichtsbarkeit, zur […] undemokratischen Macht“.

Die einzige Antwort auf diesen Affront, wie man es überall in den deutschen Medien lesen kann, ist daher: „Haltung“ zeigen; die EU verteidigen, auch wenn sie unrecht haben sollte (man denke an Junckers „Es kann keine demokratische Entscheidung gegen die EU-Verträge geben“); darauf verweisen, daß „Meinungsverschiedenheiten der mitgliedstaatlichen Gerichte […] die Einheit der Unionsrechtsordnung aufs Spiel […] setzen“, wie der EuGH es in einem Communiqué kundtat; und notfalls Deutschland wegen Vertragsverletzung anklagen, wie Ursula von der Leyen ankündigte.

Und das alles so lange, bis Karlsruhe klein beigibt oder freiwillige Rücktritte den Weg zu mehr europäischem Geist bahnen – man kennt diese Eskalationsschaukel ja unter etwas anderen Vorzeichen vom Verfassungsschutz. Daß dieses Vorgehen in etwa dem entspricht, was man sonst den „Rechtspopulisten“ als „autoritäres Durchregieren“ vorwirft, entbehrt dabei nicht einer gewissen Pikanterie …

Es würde zu weit führen, auf die formalen Feinheiten des Disputs einzugehen, zumal das wahre Problem bei den meisten Auseinandersetzungen zwischen der EU und ihren Mitgliedsstaaten gegenwärtig eben nicht darin liegt, wann, wo und von wem nationale oder europäische Kompetenzen überschritten wurden: Das wahre Problem ist, daß die EU – vereinfacht gesprochen – den Geist, der sie einst hervorbrachte, schrittweise bis ins Unkenntliche verzerrt hat und das Gegenteil von dem geworden zu sein scheint, was sie ursprünglich bezwecken sollte – ein Paradebeispiel für Hegels Gedanken, daß jede These aus sich selbst heraus ihre Antithese hervorbringt.

Ging es einst darum, christlich-abendländische Werte zu schützen, stehen heute Multikulti und Diversity im Vordergrund; wollte man ursprünglich die soziale Marktwirtschaft gegen Kommunismus wie Ultrakapitalismus verteidigen, erleben wir heute den Durchbruch des Milliardärssozialismus; und betrachtete man damals die Nationen als Träger von Demokratie und europäischer Identität, werden sie heute als Synonym für Chauvinismus und Intoleranz gebrandmarkt. 

Deshalb wäre es auch sinnlos, die politische Diskussion um das Karlsruher Urteil oder die polnische Demokratisierung des Rechtssystems nur auf einer rein formalen Ebene zu führen, denn es geht schon lange nicht mehr nur um den Buchstaben, sondern um den Geist der Gesetze.

Es gilt daher vielmehr, die ursprünglich vielleicht sinnvolle, nunmehr aber gefährlich gewordene Logik der „Méthode Monnet“, eine „ever greater union“ lieber auf dem Weg des verwaltungsmäßigen Sachzwangs zu provozieren, als sie dem Entscheid der Bürger anzuvertrauen, durch eine Reformierung und Demokratisierung des bislang Erreichten zu überdenken; und es gilt, die einseitige, von der 1968er Generation betriebene Gleichsetzung der „europäischen Werte“ mit dem Ungeist des Universalismus und der „Political Correctness“ zu beanstanden. Die demokratischen Strukturen des 20. Jahrhunderts lebten einst davon, daß herrschende Positionen kritisch hinterfragt wurden und der Staat einen Rahmen, aber keine Inhalte vorgab.

Seit sich im öffentlichen Diskurs des 21. Jahrhunderts aber zunehmend eine politisch-korrekte „Leitmeinung“ durchgesetzt hat, die für sich absolute moralische Überlegenheit beansprucht, die Auslegung des Gesetzes diktiert und alle anderen Positionen als „rechts“ diskreditiert, sind die Grundfesten der Demokratie erschüttert worden. Es war bereits vor Ausbruch der Coronavirus-Wirtschaftskrise mehr als fraglich, ob eine Lösung dieser Polarisierung überhaupt noch von innen heraus erzielt werden könnte; nunmehr aber sind die Aussichten noch düsterer geworden.






Prof. Dr. David Engels ist Professor für Römische Geschichte in Brüssel und forscht am Instytut Zachodni (West-Institut) in Posen.