© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

„Ich nenne das Aberglaube“
Der Epidemiologe Sucharit Bhakdi gilt ob seines wissenschaftlichen Rufs und eines Briefs an die Kanzlerin inzwischen als Deutschlands prominentester „Corona-Kritiker“. Doch sind seine Argumente wirklich stichhaltig?
Moritz Schwarz

Herr Professor Bhakdi, haben Sie auf Ihren offenen Brief an die Bundeskanzlerin vom April mittlerweile Antwort erhalten?

Sucharit Bhakdi: Nein. Aber ich habe auch nie damit gerechnet.

Warum? Sie sind offenbar ein Forscher mit erheblichem Renommee. Könnte man das da nicht erwarten?

Bhakdi: Ich habe diesen ja nicht um meinetwillen geschrieben, sondern um die Öffentlichkeit zu informieren, damit eine sachliche Debatte geführt werden kann.

Die zentrale Frage, die Sie Kanzlerin Merkel darin gestellt haben, ist die nach der Gefährlichkeit des Corona-Erregers.

Bhakdi: Ja, die französische Studie „Sars-CoV-2: Fear versus Data“ etwa kommt zu dem Schluß, daß er sich da von üblichen Corona-Viren nicht unterscheidet. 

Das sieht das Robert-Koch-Institut anders und nennt drei Gründe: 1.) höhere Ansteckungsgefahr wegen der größeren Virenlast im Rachenraum, 2.) mehr schwere und tödliche Krankheitsverläufe, 3.) völlige Unerfahrenheit unseres Immunsystems mit dem Erreger sowie Fehlen eines Impfstoffs. 

Bhakdi: Das sagt das RKI – die Zahlen aber sagen etwas anderes. So hat Professor John Ioannidis, ein hervorragender Wissenschaftler der US-Elite-Universität Stanford, die Corona-Toten gezählt. Ergebnis: In Deutschland etwa starben bis zum 4. April pro 10.000 Bürger im Alter ab achtzig Jahre „nur“ zwei an Covid-19. Ich habe das dann nochmal für die Zeit bis 20. April hochgerechnet und kam auf sieben bis acht Covid-19-Tote pro 10.000 Deutsche ab achtzig. 

Was besagt die Zahl?

Bhakdi: Nun, von 10.000 über achtzig sterben altersbedingt im Schnitt 1.200 pro Jahr. Und von diesen 1.200 wiederum im Schnitt 120 an Atemwegserkrankungen – die von zehn verschiedenen, bekannten Erregern ausgelöst werden. Zu denen nun der Corona-Erreger Sars-CoV-2 hinzukommt. Runden wir die von mir hochgerechneten sieben bis acht Covid-19-Toten auf zehn auf, dann gehen wie viele Atemwegstote pro 10.000 Bürger über achtzig auf das Konto von Corona? 10 von 120! Während 110 an den üblichen Erregern sterben. Das belegt, daß Sars-CoV-2 nicht gefährlicher ist als die bekannten Erreger und daß falsch ist, was das RKI behauptet! Warum also sollte man ihm glauben? 

Weil man als Laie nicht beurteilen kann, wer recht hat. 

Bhakdi: Ich bitte Sie! Herr Drosten hat vor sieben Wochen den Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems vorausgesagt, weil zwanzig Prozent der Infizierten schwer erkranken würden. Und heute? Die Intensivstationen sind leer! 

Weil, so das Argument, die umfangreichen Kontaktsperren das verhindert haben. 

Bhakdi: Stimmt nicht! Kennen Sie denn nicht die Darlegung von Professor Stefan Homburg, der darauf hinweist, daß die vom RKI selbst veröffentlichten Zahlen zeigen, daß die Epidemie schon vor dem 23. März, dem Beginn des Lockdown, dabei war abzuebben?

Weil, so das Argument, bereits vor dem großen Stillstand Maßnahmen, wie die Absage von Großveranstaltungen, gewirkt haben.

Bhakdi: Kann sein, kann nicht sein. Schweden kommt ohne Lockdown aus, was Homburgs Analyse unterstützt. All das zeigt: Dieser einfache Erreger ist zur „gefährlichen Pandemie“ aufgebauscht! Und möglich ist das nur, weil die Bürger brav mitmachen. Das ist das eigentlich Bestürzende: wie unfaßbar gläubig Volk und Medien sind! Ich komme aus Thailand, wo Aberglaube das Leben bestimmt hat. Auch deshalb bin ich weggegangen und in dieses wunderbare Land gekommen, wo die Wissenschaft bis jetzt zu Hause gewesen ist. Aber nun werdet auch ihr abergläubisch – das entsetzt mich! 

Die Leute hören auf ein renommiertes wissenschaftliches Institut. Ist der Aberglaube-Vorwurf also nicht völlig unfair?

Bhakdi: Es geht um Fakten – die von der großen Mehrheit ignoriert werden, weil das RKI etwas anderes sagt. Ist es nicht egal, was Herr Drosten und Co. sagen, wenn die Zahlen dem widersprechen? Wider jede Vernunft an das RKI  zu glauben, das nenne ich Aberglaube. 

Der Laie kann die Fakten doch gar nicht bewerten, dazu fehlt ihm Fachwissen. 

Bhakdi: Tatsächlich ist das ein Hauptvorwurf, den man dem RKI und den zuständigen Experten machen muß: die vermeintlichen Fakten so zu präsentieren, daß bei Laien Angst und Furcht gesät wird. Und dabei die wirklich einfachen und wichtigen Zahlen, die ich eben erläutert habe, vollkommen zu unterschlagen. 

Bis Redaktionsschluß waren es in Deutschland offiziell 172.500 Infizierte und 7.500 Corona-Tote, was eine Sterbequote von 4,3 Prozent ergibt. Die ist damit aber doch viel höher als bei normaler Grippe mit einer Quote von 0,3 bis 0,7 Prozent?

Bhakdi: Erstens gibt es eine sehr hohe Dunkelziffer von infizierten Personen, weil das Virus meistens nur leichte oder gar keine Symptome auslöst und dann nicht diagnostiziert wird. Studien von Professor Ioannidis in den USA und von Professor Hendrik Streeck in Deutschland weisen beide darauf hin, daß die Zahl der Infizierten um ein Vielfaches höher liegt – aller Wahrscheinlichkeit nach um mehr als das Zehnfache höher. Damit aber sinkt die Sterbequote schlagartig auf unter 0,4 Prozent. Zweitens muß diese Zahl abermals deutlich nach unten korrigiert werden, weil – übrigens auf Anweisung des Bundesgesundheitsamts – eine Unterscheidung zwischen „Tod mit“ und „Tod an“ dem Virus nicht vorzunehmen sei. Das aber verstößt direkt gegen die ärztlichen Leitlinien und verzerrt auf unverantwortliche Weise das Bild: Stirbt jemand an Krebs oder Schlaganfall und hat zufällig einen positiven Virusnachweis, erscheint er automatisch auf der Liste der „Corona-Toten“.

Zwar ist bekannt, daß, wie Sie sagen, nicht sauber zwischen „gestorben an“ und „gestorben mit“ Corona-Infektion unterschieden wird, doch ist eine überdurchschnittliche Sterbezahl, die sogenannte Übersterblichkeit, in Italien, Spanien, Frankreich, Großbritannien sowie den USA Fakt und keine Frage der Definition. Was ist die Ursache dafür, wenn nicht Covid-19?

Bhakdi: Weshalb wird nie andersherum gefragt: Wenn Covid-19 doch so gefährlich ist, warum gibt es dann nur in diesen, nicht aber in allen europäischen Ländern eine Übersterblichkeit? Folgt daraus nicht, daß es in genannten Ländern spezifische, lokale Gründe geben muß? 

Aber alle geben doch selbst Covid-19 als Ursache an.

Bhakdi: Ich habe sie zwar nicht besucht, kenne aber dennoch die Zustände in den genannten vier EU-Staaten und glaube daher zu wissen, was die Ursachen sind. Covid-19 allein ist es ganz bestimmt nicht. Auch hier führt die fehlerhafte Definition zur allgemeinen Verunsicherung und Verwirrung.

Warum das?

Bhakdi: Ich sage nur: Sars-CoV-2 ist überall das gleiche Virus – es tötet also nicht in Italien mehr und in Deutschland weniger. Und ich bitte Sie, sich auch einmal die Übersterblichkeit in Großbritannien anzusehen: Die betrifft nämlich nicht nur Ältere, sondern auch 15- bis 65jährige. Die aber doch bekanntlich kaum an Covid-19 versterben! Das spricht doch Bände. Dort bricht nämlich, wie in Italien, Frankreich und Spanien, das Gesundheitssystem zusammen. Weil ihr Gesundheitssystem marode ist und Ärzte und Pfleger in Quarantäne geschickt werden, wenn ein Corona-Infizierter eingeliefert wird. Kein Wunder, sterben dann unterversorgte Patienten mit Herzinfarkt, Schlaganfall etc.

In führenden Wirtschaftsnationen wie England, Frankreich oder den USA müßte dann das Gesundheitssystem noch schlechter sein als etwa in Griechenland, Rußland oder anderen ärmeren Staaten, wo es derzeit keine Übersterblichkeit gibt.

Bhakdi: Ich kenne die Zustände dort nicht – wohl aber, wie gesagt, in den genannten vier EU-Staaten. Vielleicht schicken Griechen und Russen ihr Personal nicht in Quarantäne und betreiben nicht die gleichen sinnfreien Isolationsmaßnahmen, die personell und materiell kaum zu stemmen sind? Vielleicht wird dort auch weniger Panik verbreitet, so daß nicht so viele Menschen an den unzähligen Kollateralschäden der überzogenen Maßnahmen sterben? Ich weiß es nicht. 

Wenn es nicht an Corona liegt, warum passiert das in den genannten Staaten dennoch ausgerechnet jetzt und zur gleichen Zeit? 

Bhakdi: Es passiert eben nicht nur jetzt. Vor zwei Jahren ist sowohl in Norditalien wie auch in New York das Gesundheitssystem schon mal zusammengebrochen. 

Sind Sie sicher? Davon ist nichts bekannt. 

Bhakdi: Weil das nicht in den Medien war. Der Unterschied ist, daß darüber nicht berichtet wurde – jetzt dagegen schon.

Wenn es am Gesundheitssystem liegt, dann müßten dessen Beschäftigte doch – schon im eigenen Interesse – dagegen protestieren, daß die Schuld auf Corona geschoben wird. Statt dessen kamen gerade von Ärzten und Krankenschwestern verzweifelte Appelle, die Corona-Gefahr doch bitte endlich ernst zu nehmen.

Bhakdi: Das ist etwas, was ich auch nicht verstehen kann. Aber vermutlich ist es wie in Deutschland, wo die Ärzte ja auch nichts dagegen sagen. 

Ärzte und Pflegepersonal schimpfen doch schon seit Jahren ohne Scheu über unsere Gesundheitspolitik. Warum sollten sie sich nun plötzlich zu Komplizen machen?  

Bhakdi: Ich denke, weil die Corona-Sache so rasch kam und sie auf dem falschen Fuß erwischt hat, da sind sie umgekippt. Deshalb habe ich mich nun jüngst an der Gründung des Vereins „Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie“ beteiligt. Damit Ärzte zusammenkommen und solche Probleme gemeinsam diskutieren können.  

Wenn alles nur Hysterie ist, wie erklären Sie sich dann den Wandel von Politikern wie Trump oder Boris Johnson bei Covid-19? Die ja nicht im Verdacht stehen, einschlägige Hysterien mitzumachen.

Bhakdi: Ich kenne diese Politiker nicht. Ich weiß daher auch nicht, warum sie tun, was sie tun. Und ehrlich gesagt, es interessiert mich auch nicht. Die meisten Politiker drehen sich wie Fahnen im Wind. 

Sie sind keineswegs der einzige Kritiker in Sachen Corona, der fachliche Kompetenz und Erfahrung vorweisen kann. Aber offenbar teilt die Mehrheit Ihrer Kollegen Ihre Meinung nicht – obwohl, wie Sie sagen, die Zahlen ja angeblich so eindeutig seien, daß sie sogar jeder Laie verstehen könne. Halten Sie Ihre Kollegen folglich für inkompetent, gekauft, feige – oder wie erklären Sie sich das?

Bhakdi: Es gibt Virologen, mit denen ich schon immer geteilter Meinung war, wie etwa Christian Drosten oder Alexander Kekulé. Hendrik Streeck dagegen, der nun ja auch sehr bekannt geworden ist, halte ich für einen redlichen Mann, der versucht, gute Wissenschaft zu machen und der derzeit in Deutschland der einzige ist, der belastbare Daten hat.

Streeck meint allerdings zur Gefährlichkeit von Sars-CoV-2, daß diese noch nicht geklärt sei. Während Sie sagen, sie sei nicht größer als die der üblichen Grippeerreger. Beides gleichzeitig kann nicht stimmen.

Bhakdi: Ich sage: das Virus ist nicht gemeingefährlich. Ich sage aber nicht, daß es ungefährlich ist. Es kann wie viele andere Erreger auch ein volles Faß zum Überlaufen bringen, nicht mehr und nicht weniger. 

Ihr Vorwurf lautet, alles was wir derzeit  erleben, sei nachweislich Hysterie. Das läßt sich mit Streecks Position nicht vereinbaren. 

Bhakdi: Ich bin im Ruhestand und muß mich nicht zurückhalten. Streeck steht mitten in seiner aufstrebenden Laufbahn. Mehr muß ich wohl nicht sagen. 

Das bedeutet doch, Streeck sage aus Angst vor Karrierenachteilen nicht die volle Wahrheit. Ist das nicht eine Unterstellung? 

Bakdi: Natürlich kann und vor allem will ich Herrn Streeck nichts unterstellen! Aber bitte seien Sie nicht naiv, selbstverständlich können Abweichler vom System Probleme bekommen. Das kann ich Ihnen aus meiner langjährigen Berufserfahrung bestätigen – ich kenne selbst genug solcher Fälle. 

Sie sind wohl der fachlich renommierteste Kopf unter den „Corona-Kritikern“. Ganz gleich, wie man zu Ihrer Position stehen mag: Ist es nicht ein Skandal, daß Sie im Internet zensiert werden und die Medien nur über, aber nicht mit Ihnen sprechen?

Bhakdi: Natürlich. Vor allem aber hat die Politik die Pflicht, andere Meinungen einzuholen, weil sie ja die Entscheidungen trifft, die uns alle angehen. Und was die Öffentlich-Rechtlichen betrifft, die stehen doch unter der Fuchtel der Politik. Zu was dieses Medienversagen aber führen wird, das will ich mir gar nicht ausmalen! Wissen Sie, ich liebe dieses Land mit seiner einstigen Losung Einigkeit und Recht und Freiheit. Aber wo ist die Einigkeit hin? Stattdessen Streit und Ausgrenzung! Wo das Recht? Stattdessen sind wir entrechtet! Wo die Freiheit? Wenn es uns sogar verboten ist, uns frei zu bewegen! Ich möchte nicht, daß meine Kinder und Enkelkinder in einem Deutschland aufwachsen, das seine elementaren Werte verloren hat. Und ich möchte nicht, nachdem ich meine erste Heimat Thailand verlassen habe, weil es kein freies Land ist, nun auch noch meine zweite Heimat verlieren.






Prof. Dr. Sucharit Bhakdi, der Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie war bis 2012 Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Universität Mainz. Zuvor forschte er an den Universitäten von Kopenhagen und Gießen. Es gelangen ihm mehrere international beachtete Entdeckungen auf dem Gebiet der Immunologie und wichtige Beiträge in der Malaria- und Denguefieber-Forschung. Geboren wurde der Emeritus, der 1963 nach Bonn kam und seit 2017 Deutscher ist, 1946 als Sohn thailändischer Diplomaten in Washington D.C. 

Foto: Das Virus im Nacken (Fußgänger in Unterführung, Covid-19-Erreger / Montage): „Es geht um Fakten – die von der großen Mehrheit ignoriert werden, weil das Robert-Koch-Institut etwas anderes sagt ...  Tatsächlich ist das ein Hauptvorwurf, den man diesem und den Experten machen muß: die (Daten) so zu präsentieren, daß bei Laien Angst und Furcht gesät wird“

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