© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Gegen Fußballfieber gibt’s keine Medizin
Fan-Aktionen: Während der Zwangspause auf dem Rasen präsentieren sich Ultras besonders öffentlichkeitswirksam als gemeinnützig
Christian Schreiber

Gerade noch hatte Bayerns Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge die Ultras als „häßliches Gesicht des deutschen Fußballs“ bezeichnet, nachdem sie den Mäzen der TSG Hoffenheim, Dietmar Hopp, auf Plakaten verunglimpft hatten. Nun, in Zeiten der Corona-Krise, in denen bis jetzt auch der Fußball ruhte, ist plötzlich alles ganz anders. In bundesweit über 20 Initiativen bietet die organisierte Szene unter anderem Botengänge oder Einkaufshilfe an. „In dieser Krise kommt es auf die Solidarität an. Da ist es unsere Pflicht, nicht nur als Fußball-Fans, sondern auch als Bürger zu versuchen, möglichst gut durch diese Krise zu kommen“, sagte André Golinski von einer Gruppe Hannover-96-Fans dem Berliner Tagesspiegel. 

In mehreren Dutzend Städten, ob in Freiburg, Dortmund oder Saarbrücken, bemalten Ultras Transparente und hängten sie vor Krankenhäusern, Senioreneinrichtungen oder Pflegeheimen auf, um sich bei den Angestellten zu bedanken. Sig Zelt von der Organisation ProFans glaubt, daß die zahlreichen Aktionen das Image der Fans verändern. „Ich hoffe, daß das auch den Ruf der Ultras etwas verbessert“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. 

Beim Hamburger Kiez-Club FC St. Pauli gibt es schon seit längerem eine Vielzahl an Hilfsangeboten von Fans für Fans. Eine Gruppe, die den Obdachlosen-Duschbus „GoBanyo“ vor dem Millerntor-Stadion betreut, kündigte nun einen verstärkten Einsatz in Corona-Zeiten an. „Wir haben ein Team von rund 30 Ultras und Mitarbeitenden des FC St. Pauli an unserer Seite, das uns mit Personenschutz und Logistik hilft. Das gibt uns die Luft, die wir unter den Masken brauchen.“ 

Die Ultras von Eintracht Frankfurt haben eine Internetseite eingerichtet, auf der Einrichtungen für Hilfsbedürftige aus Frankfurt und Umgebung angeben können, in welcher Form sie während der Pandemie Unterstützung benötigen. Hilfswillige SGE-Fans erhalten so einen schnellen Überblick, wo sie etwas tun können – egal in welcher Form. Ultras des Bundesligisten Borussia Mönchen-gladbach haben zuletzt  den „Gabenzaun“ an einer Kirche mit Lebensmittel-Tüten für Obdachlose bestückt. Und der saarländische Regionalligist FC Homburg hat mit der (kleinen) aktiven Fan-Szene und einigen Sponsoren eine Einkaufshilfe für ältere Menschen eingerichtet. 

In Italien, wo vor allem in der nördlichen Region um Bergamo die Not besonders groß ist, halfen Fan-Gruppen bei der Errichtung eines Not-Lazaretts. Maler und Klempner waren ebenso im Einsatz wie Krankenpfleger. So lobenswert diese Aktionen sind, es stellt sich auch die Frage, ob und welche Gegenleistung die Ultras irgendwann einfordern werden. 

In Deutschland gibt gerade die vierte oder schon fünfte Ultra-Generation den Ton an. Sie wurden mutiger. Eine organisierte Fanszene gibt es bei jedem Profiverein, oftmals streben sie nach Macht. Beim Zweitligisten Hannover 96 stellen heute organisierte Fans die Mehrheit des Aufsichtsrates und machen Investor Martin Kind das Leben schwer. Beim maroden ehemaligen Deutschen Meister 1. FC Kaiserslautern glänzten Fan-Vertreter vor allem durch Indiskretionen. „Sie sind gegen den modernen Fußball, glauben, daß sie die Wahrheit alleine gepachtet haben. Jede Information aus vertraulichen Sitzungen landete in der Fan-Kurve. Das hat die Arbeit unheimlich erschwert“, sagte der langjährige Vereinschef und heutige U21-Nationaltrainer Stefan Kuntz. Seit einigen Jahren ist jedoch auch unter den Ultra-Gruppen eine zunehmende Politisierung zu beobachten.  Die der Sozialdemokratie nahestehende Arbeiterwohlfahrt (Awo) ist die größte Trägerin von Fanprojekten im Fußball. „Fußball, Sport, Jugend und Ultras“, heißt es vielsagend in einer Broschüre, an anderer Stelle wird zum „Aktionstag gegen Rassismus“ aufgerufen. Die von der Deutschen Fußball-Liga (DFL) und dem Staat mitfinanzierten Fanprojekte sind oftmals Rückzugsgebiet der organisierten Ultras. „Das Engagement hat maßgeblich dazu beigetragen, daß rassistische oder homophobe Gesänge in den deutschen Stadien mittlerweile weitgehend verpönt sind“, glaubt die Awo. 

Herthaner sollen Eintrittsgelder spenden

Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die meisten Ultra-Gruppen sind hierarchisch strukturiert. Sie können Vertreter haben, die im Namen der Gruppe mit dem Verein, den sie unterstützen, kommunizieren. Sie erhalten zum Beispiel Zugang zu Lagerräumen, um Fahnen oder Banner für die Spiele vorzubereiten. Und: Sie lehnen die Polizei ab. Die Fangruppen würden nicht zulassen, daß Polizisten in ihren Block gingen und etwa Fanplakate beschlagnahmten, sagte Jörg Radek von der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Zur Wahrheit gehört auch, daß Ultras des FC St. Pauli in aller Regel an den Mai-Randalen in Hamburg beteiligt sind; Aktivisten von Chemie Leipzig gehören zum festen Bestand der militanten Connewitzer Szene. „Die Übergänge sind durchaus fließend“, sagt GDP-Mann Radek.

Unterdessen haben die Ultras „Harlekin Berlin ’98“ die Fans des Hauptstadt-Erstligisten Hertha BSC dazu aufgerufen, das Geld für bereits gezahlte Eintrittskarten zurückerstatten und anschließend karikativen Projekten zukommen zu lassen. Denn bei den künftigen „Geisterspielen“ ohne Publikum kann notgedrungen das Getränke-Pfand im Stadion („Spendet Becher – rettet Leben“) nicht gespendet werden.