© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Dorn im Auge
Christian Dorn

Mit der staatlich verordneten Distanz steigt die Sehnsucht, so die nach dem vorbeihuschenden hübschen Mädel, dessen Sweatshirt – mit Reißverschluß unter dem linken Ärmel – die kesse Botschaft trägt: „Support your local pussy“. Passend dazu erscheinen auf einmal die omnipräsenten Plakate des Sextoy-Herstellers mit dem sinnfreien Motto „Ruhig bleiben und Dildos benutzen“ – eigentlich eine Contradictio in adiecto. Währenddessen vermelden Medien den Tod von Little Richard (5. Dezember 1932 – 9. Mai 2020), dessen spitze Schreie ich noch in den 1990ern im Tempodrom-Zelt im Tiergarten gehört hatte. Der flamboyante Priester („Wenn Elvis der King ist, dann bin ich die Queen des Rock’n’Roll“) duldete damals keinen „Cowboy als Mann“ – doch die Sängerin Gitte tanzte mit meinen Eltern, die hier einen Teil ihrer Jugend zelebrierten. 


Wer die Jugend hat, hat bekanntlich die Zukunft. Die Plakatlosung der digitalen Ausstellung „75 Jahre Kriegsende“ warnt unverhohlen vor der AfD, heißt es doch auf der Litfaßsäule: „Willst du, was du wählst?“ Das Ergebnis dieser Indoktrination zeigt sich beispielhaft am 1. Mai am Rosa-Luxemburg-Platz, wo ich ein Mädchen zur Rede stelle, deren Pappschild eine Warnung trägt: Wer für „Freiheit“ demonstriere, könne nicht mit „Nazis“ auftreten. Auf meine Frage, woran ein „Nazi“ zu erkennen sei und ab wieviel „Nazis“ nicht mehr demonstriert werden könne, bei einem, bei zwei oder erst einer Handvoll, druckst sie herum. Auf die Nachfrage, was mit der AfD sei, antwortet plötzlich das halbe Dutzend junger Leute, das zu ihr gehört, im Chor: „Natürlich sind das Nazis.“ Heilige Einfalt! Bei dieser Gleichschaltung hilft zum Glück die Flasche Maibock. In der U-Bahn proste ich dem Paar zu, das ebenfalls den „Maulkorb“ abgelegt hat. In so erheiterter wie provokanter Stimmung gibt ein Wort das andere: „Warum ist überall das Toilettenpapier ausverkauft? Weil, wenn irgendwer hustet, sich alle gleich in die Hose machen.“ Und: „Welches Schwein von der Regierungsbank wurde noch nicht geschlachtet? Das Spahn-Ferkel.“ Schließlich wird zu „Billie Jean“ von Michael Jackson getanzt, der schon damals einen Mundschutz trug – darauf der Kommentar: „Hat ihm auch nichts genützt.“


Ähnlich sieht es die aus Sachsen stammende Nachbarin, Schauspielerin und TV-Serienstar, die der Partei „Widerstand 2020“ angehört. Die Angst in den Augen der jungen Polizisten, so B., die einst Playboy-Titel war, sei wie damals zum Ende der DDR.. Lakonisch kommentiert sie ihre plötzlich entdeckte Opposition: „Offenbar hat ’89 nicht gereicht.“