© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Verlogene Propaganda
Literarische Historisierung: Der Schriftsteller Steffen Kopetzky schlägt einen Bogen von der Schlacht im Hürtgenwald 1944/45 zum Vietnamkrieg
Felix Dirsch

Warum konstruiert ein Roman-autor einen Protagonisten, der einen überaus naiven Eindruck hinterläßt? Eine mögliche Antwort könnte lauten: Die Hauptfigur kann in diesem Fall eher banal anmutende Weisheiten von sich geben, die ohnehin klar sind, aber nicht den gängigen Vorgaben der Politischen Korrektheit entsprechen.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht mit John Glueck ein US-Offizier und Angehöriger der militärischen Propagandaabteilung „Sykewar“, dessen Nachname deutsche Vorfahren verrät. Der mittlerweile fünfzigjährige Experte in psychologischer Kriegsführung blickt zur Zeit des Vietnamkriegs, an dem er teilnimmt, also um 1970, auf ein bewegtes Leben zurück. Die Zeit nachzudenken besitzt er auch deshalb, weil er wegen einiger Delikte wie Geschwindigkeitsüberschreitung und Widerstand gegen die Staatsgewalt in Haft sitzt.

Vom Idealismus bleibt nichts mehr übrig

Für ihn überraschend ist die Brutalität, mit der sein Land gegen Vietnam Krieg führt. Besonders erschreckt ihn ein Plan aus dem Pentagon, von dem er Kenntnis erhält: Mit Blick auf den zahlenmäßigen Nachwuchs der Nordvietnamesen beraten US-Behörden, wie die Neugeburten möglichst effizient wieder getötet werden können. Glueck fühlt sich wie ein ahnungsloser deutscher Offizier, der 1943 von den Kosten des Zyklon B erfährt, die für massenhafte Ermordungen in Konzentrationslagern aufgebracht werden müssen. Die ganze Verlogenheit und Heuchelei von Krieg und Propaganda, jenseits aller Unterschiede von Geschichte, Traditionen und Mentalitäten, erfüllt ihn mit Groll. Es fällt ihm wie Schuppen von den Augen, daß jeder Krieg ein unentwirrbares Geflecht von Lügen hervorbringt. Dies gilt auch für „humanitäre Kriege“, die in der US-Historie immer wieder zur Legitimation von Gewalt herangezogen werden.

Vom Idealismus des einstigen jungen Studenten, der seinen Dienst für die US-Armee im Zweiten Weltkrieg leistete, als er von NS-Grausamkeiten erfährt, bleibt nichts mehr übrig. Er schlüpft in die Rolle eines 68er-Protestlers, der mit seinen Sympathien für die Neue Linke nicht hinterm Berg hält. Die Wut überkommt ihn angesichts der Untaten, von denen er Kenntnis erhält. Sind „wir“ wirklich besser als „die“, die wir bekämpft haben und gegenwärtig bekämpfen?

Mit „die“ sind auch die Deutschen gemeint, gegen die er mit gemischten Gefühlen ins Gefecht gezogen ist, erfüllt ihn doch die Kultur seiner Vorfahren, deren Sprache er gut beherrscht, mit Stolz. Ein Großteil des Textes beschäftigt sich mit den Erlebnissen, die sich Glueck ins Gedächtnis eingebrannt haben. Es sind nicht nur schlechte. Er folgt den Truppen nach der Landung in Westfrankreich 1944. Dabei lernt er etliche Geistesgrößen seiner Zeit kennen, allen voran Ernest Hemingway und John D. Salinger.

Einen Höhepunkt bietet der Roman in den retrospektiven Reflexionen über die sogenannte Allerseelenschlacht im Hürtgenwald. Ende 1944 konnte die Wehrmacht hier ihre letzten größeren Erfolge erzielen; die US-Armee hatte 15.000 Tote zu verzeichnen. Die Schlacht erwies sich nicht als kriegsentscheidend, hinterließ aber in Erinnerung und Geschichtsschreibung nachhaltige Spuren.

Ein junger Mediziner als Lichtgestalt

Die Dauer der Schlacht im „Blutwald“ wird im Rückblick fast zur Ewigkeit. Kopetzky zieht alle Register seiner Erzählkunst. Was nicht alles passiert! Kurzzeitig taucht Glueck sogar als Spion im feindlichen Lager auf. Er nimmt die Identität eines gefangenen Deutschen an. Die Täuschung wäre vielleicht nicht aufgefallen, wäre er nicht dem Bruder einer früheren Geliebten begegnet, einem fanatischen Nationalsozialisten, der ihn wiedererkennt. In einer dramatischen Situation sticht er ihm einen Bleistift durch die Augen und kann im letzten Moment fliehen.

Schlachten bringen häufig Helden hervor. Das müssen nicht unbedingt einfache Infanteristen sein, die gegnerische Soldaten töten und dafür dekoriert werden. In „Propaganda“ ist die Lichtgestalt ein Arzt, der sich auch in der Wirklichkeit höchste Verdienste erworben hat. Hunderte von Verwundeten unterschiedlicher Nationalitäten verdanken ihm das Leben, so auch Glueck. Es handelt sich um den jungen Mediziner Günter Stüttgen (1919–2003), in dessen Persönlichkeit sich Humanität und außerordentliche Sachkompetenz in seltener Weise kreuzten. Später avancierte er zu einem berühmten Dermatologen und angesehenen Hochschullehrer in Berlin, der noch Jahrzehnte nach seinen Hilfsaktionen vom ehemaligen Gegner hohe Auszeichnungen erhalten hat.

Kopetzkys Buch kann an den Erfolg seines Vorgängers „Risiko“ (2015)anknüpfen. Auch darin gelingt es dem Autor, realgeschichtliche Ereignisse, in diesem Fall eine deutsche Expedition nach Afghanistan während des Ersten Weltkrieges, in eine großartige Erzählung zu verpacken (JF 52/15). Inhaltlich und stilistisch schließt Kopetzky an amerikanische Vorbilder wie John Updike, Salinger und Hemingway an. In dem Roman „Propaganda“ beweist er erneut seine Kunst, zur literarischen Historisierung eines Kriegsgeschehens beizutragen. 

Steffen Kopetzky: Propaganda. Roman, Rowohlt-Berlin, Berlin 2019, gebunden, 490 Seiten, 25 Euro