© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Gewaltherrschaft auch ohne die Sowjets
Ein Gebiet um die Erzgebirgsstadt Schwarzenberg blieb im Mai 1945 unbesetzt / Kommunisten etablierten ein Regime mit Morden und Enteignungen
Paul Leonhard

Sozialistisch soll das junge Staatswesen sein und basisdemokratisch. Banken, Bergwerke, Hütten und Großbetriebe dem Volk übereignet. Die Wirtschaft sollte der sozialen Gerechtigkeit dienen und natürlich Rosa Luxemburgs Satz gelten, daß Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden ist. In seinem Roman „Schwarzenberg“ skizziert Stefan Heym die Vision eines demokratischen Sozialismus. Und als der in der DDR mit einem Veröffentlichungsverbot belegte Schriftsteller mit US-Paß in den Räumen der Evangelisch-reformierten Gemeinde Dresden aus seinem noch unveröffentlichten Buch vorliest, da nicken nicht wenige in dem überfüllten Saal, so einen Sozialmus fänden sie richtig.

1984 erscheint Heyms „Schwarzenberg“ in der Bundesrepublik, in der DDR erst 1990. Mit den Utopien des Genossen Heym wollten da nur noch jene etwas zu tun haben, denen diese bisher ein Dorn im Auge waren: die Kommunistern der SED/PDS. Das Volk dagegen benötigte keinen „politischen Roman als Denkspiel“ (Erich Loest), um sich für die sofortige Wiedervereinigung des Vaterlandes und damit das Modell des Sozialstaates zu entscheiden. 

Rechnungen aus den 20er Jahren wurden beglichen

Dabei ist das Geschehen in der damaligen Amtshauptmannschaft Schwarzenberg durchaus ein Lehrstück dafür, was passiert, wenn einheimische Kommunisten aus eigener Kraft die Macht an sich reißen. Nach der Kapitulation blieben 2.000 Quadratkilometer mit 74 Städten und Dörfern im Erzgebirge für 42 Tage unbesetzt. 

Den Grundstein für Heyms spätere Legende legte der Historiker Werner Groß, der in seiner Diplomarbeit am Beispiel der 17.000-Einwohner-Stadt Schwarzenberg nachzuweisen versuchte, daß die deutschen Kommunisten auch ohne Sowjetarmee den Sozialismus aufbauen können. Noch 2004 sinniert Volker Braun in seinem Report „Das unbesetzte Gebiet“, wie es wäre „in einem Land, wo keine fremde Macht herrscht – und niemand bestimmt darin, als die sich um sich selber kümmern?“

Fast gleichzeitig beginnt Lenore Lobeck den Mythos Schwarzenberg zu entzaubern. Die Historikerin hat sich die Archive vorgenommen und zeichnet in immer wieder überarbeiteten Auflagen ihres Buches „Die Schwarzenberg-Legende“ (zuletzt 5. Auflage, Leipzig 2018) ein Bild der von den Menschen vor Ort erlebten repressiven Wirklichkeit.

Während die NS-Funktionäre im Mai 1945 abtauchen, heben überall im Erzgebirge die bisher angepaßt lebenden einheimischen Kommunisten ihre Köpfe aus der Deckung. Sie bilden  antifaschistische Komitees, entwaffnen die Polizei und bewaffnen sich selbst. Viele haben noch alte Rechnungen aus den 1920er Jahren zu begleichen. 

In Schwarzenberg wird Bürgermeister Ernst Rietzsch, kurz nachdem er am 11. Mai zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ eine Bürgerwehr gründet, von 120 Arbeitern unter Führung des früheren KPD-Stadtrates Willy Irmisch aus dem Rathaus gejagt, verhaftet und später von den Sowjets erschossen. In der folgenden Nacht werden NS-Funktionäre verhaftet. Der frühere KPD-Chef von Schwarzenberg, Willi Krause, jetzt Chef des Aktionsausschusses, verspricht: „Keinem wird ein Haar gekrümmt.“ Gleichzeitig drohen die neuen Machthaber mit Erschießungen. Unter ihrer etablierten Gewaltherrschaft wird reihenweise verhaftet, beschlagnahmt und enteignet. 

Wiederholt bitten verzweifelte Bürger die Alliierten, dem Spuk ein Ende zu machen. Überdies ist die durch den Bergbau geprägte Region vollkommen isoliert. Für die Versorgung der etwa 500.000 Einheimischen, Evakuierten und Flüchtlinge fühlen sich weder Sowjets noch US-Amerikaner zuständig.

„Die Arbeiterschaft unseres Bezirkes würde Ihnen unendlichen Dank schulden, wenn die siegreiche Rote Armee zu dem Sieg über den Faschismus auch noch den Sieg über die drohende Hungersnot hinzufügte durch Ihre Hilfe“, schreibt Bezirksaktionsausschuß Hugo Grummt an den „Kommandeur der Besatzungstruppen der Roten Armee“. Die Bevölkerung müsse sich mangels Grundnahrungsmitteln mit Gräsern behelfen, „ihr körperlicher Zustand ist schlecht, und in manchen Orten treten Ruhr und große Kindersterblichkeit auf.“ Pfarrer bitten die Amerikaner, das Gebiet „wegen der demokratischen und christlichen Einstellung der Bevölkerung unter US-Schutz zu stellen und so den Sowjets zuvorzukommen.“. Doch die US-Armee hält sich an die Beschlüsse von Jalta und die Sowjets lassen sich bis Ende Juni Zeit, ehe sie in das unbesetzte Gebiet vorrücken. Dann lösen sie zwar die Antifaschischen Komitees auf, belassen aber die meisten der Aktivisten auf ihren Posten.