© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Marx-Versteher, Marx-Töter und Kapitalismuskritiker
Eine Briefedition erinnert an den Nationalökonomen und Sozialreformer Werner Sombart
Dirk Glaser

Im August 1895 starb Friedrich Engels. Eine seiner letzten Veröffentlichungen galt dem Lob des Klassenfeindes. In Gestalt des „bürgerlichen“ Nationalökonomen Werner Sombart (1863–1941). Der junge Breslauer Extraordinarius hatte im Herbst 1894 den posthum erschienenen dritten Band von Karl Marx’ „Das Kapital“ als „freudiges Ereignis“ begrüßt und ihn seinen stramm antisozialistischen Fachkollegen mit den Worten zur Lektüre empfohlen: „Wer überhaupt noch einen Funken theoretischen Interesses im Leibe hat, wird nicht ohne Befriedigung das Marxsche System nun in dem dritten Band sich vollenden sehen.“ 

Der greise Engels war entzückt und jubelte: „Es ist das erste Mal, daß ein deutscher Universitätsprofessor es fertigbringt, im ganzen und großen in Marx’ Schriften das zu sehen, was Marx wirklich gesagt hat, daß er erklärt, die Kritik des Marxschen Systems kann nicht in einer Widerlegung bestehen – ‘mit der mag sich der politische Streber befassen’ – sondern nur in einer Weiterentwicklung.“ Für Sombart erwies sich dieser Ritterschlag zwar nicht gerade als Karrierebeschleuniger, aber er machte ihn außerhalb der Zunft berühmt. Fortan genoß er einen Ruf als führender Experte in Sachen Marx. Dessen bis 1920 in neun Auflagen verbreitete Vorlesungen über „Sozialismus und soziale Bewegung“ (1896) das wilhelminische Bildungsbürgertum über die Grundlinien der Weltanschauung seiner erklärten Totengräber orientierte. 

Einer der Gründerväter der deutschen Soziologie

Das Werk dokumentiert zugleich, wie wenig ernst Sombart es mit der angemahnten „Weiterentwicklung“ des wissenschaftlichen Sozialismus und der marxistischen politischen Ökonomie meinte. Stattdessen offenbart es seinen Ehrgeiz, sich von Auflage zu Auflage sichtbarer als der von Rosa Luxemburg und Franz Mehring hart attackierte „Marx-Töter“ und „Bourgeoisideologe“ zu profilieren, der bis 1917 schließlich nicht nur zum Geheimrat und zum Ordinarius an der Berliner Universität aufstieg, sondern sich neben Max Weber, Georg Simmel und Ferdinand Tönnies bei den Gründervätern der deutschen Soziologie einreihte.

Von diesem Ruhm blieb nach 1945 kaum etwas übrig. Den Namen des Historikers und Theoretikers des „modernen Kapitalismus“ verband man allenfalls mit dem seines Sohnes Nicolaus, der unentwegt einem guten Freund des Vaters publizistisch nachstellte, um sich als „Carl-Schmitt-Töter“ zu inszenieren. Der alte Sombart hingegen wurde in einem jener Fahndungsbücher entsorgt, in denen sich „antifaschistische“ Geistes- und Sozialwissenschaftler von der Wissenschaft zu verabschieden pflegen. Im „Handbuch des Antisemitismus“, herausgegeben ausgerechnet von Wolfgang Benz (TU Berlin), einem lieben Freund des notorisch antisemitischen Islam, figuriert Werner Sombart prominent als „Judenfeind“. Obwohl der einschlägige Artikel ein vielschichtiges Hauptwerk wie „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ (1911) nur als „umstritten“ denunzieren kann und zugleich verquält an den enormen Zuspruch erinnern muß, den der positiv von der jüdischen Nation sprechende Verfasser seitens zionistischer Kreise erhalten habe. 

Wer sich selbst ein Bild jenseits solcher schaurigen Versimpelungen machen möchte, der greife zu diesem, nur noch antiquarisch verfügbaren 500seitigen Opus. Oder er trete dem gar so schlimmen „Judenfeind“ zunächst als Persönlichkeit näher. Das ist jetzt dank der knapp 400 Briefe möglich, die unter der Ägide des Sombart-Biographen Friedrich Lenger aus dessen und den Nachlässen der Adressaten ausgewählt, aber leider nicht immer mit der wünschenswerten Präzision und Ausführlichkeit erläutert wurden. Schwerpunkte liegen dabei auf dem Austausch mit sozialdemokratischen Intellektuellen wie Heinrich Braun sowie dem mehr privaten Briefgespräch mit schlesischen Freunden, den Nachbarn im Riesengebirge, Gerharts Bruder Carl Hauptmann und Wilhelm Bölsche, einem Apostel des Zoologen und „Monisten“ Ernst Haeckel. Daneben fällt die wissenschaftshistorisch interessante Ausbeute mit wenigen Briefen an Tönnies, Alfred Weber, Robert Michels, Johannes Plenge oder Max Scheler eher mager aus. Darin besonders bemerkenswert ist jedoch Sombarts oft wiederholtes Bekenntnis zu einer Wirtschaftswissenschaft, die im „Mutterboden der Geschichte“ wurzeln müsse, wenn sie nicht, wie sich schon in den 1920ern abzeichnend, zur „ökonomischen Markt-Technologie“ verflachen soll, deren mathematische Modelle heute helfen, den Finanzkapitalismus von der Realwirtschaft abzukoppeln. 

Thomas Kroll, Friedrich Lenger, Michael Schellenberger (Hrsg.): Werner Sombart. Briefe eines Intellektuellen 1886–1937. Duncker & Humblot, Berlin 2019, gebunden, 580 Seiten, Abbildungen, 99,90 Euro