© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Unbequeme Einsichten
Einwanderung: Soll unsere spaßorientierte Konsumgesellschaft Grenzen schließen?
Konrad Adam

Stellen Sie sich vor, Sie hätten Politik im Stil von Angela Merkel betrieben, hätten die Grenzen geöffnet, Fremde unkontrolliert ins Land gelassen, die Verfassung gebeugt und den Rechtsstaat mißachtet und das Volk, dem Sie ihr Mandat verdanken, als einen Popanz lächerlich gemacht.

Stellen Sie sich weiter vor, Sie wären damit bei eben diesem Volk nicht gut angekommen, hätten Widerspruch und Widerstand provoziert, den zu überwinden Ihnen trotz gewohnter Rücksichtslosigkeit in der Wahl Ihrer Mittel nicht gelungen wäre. Nehmen Sie an, das Vertrauen in Ihre Regierungskunst wäre geschwunden, das Land käme nicht zur Ruhe, die Wähler würden abtrünnig und, größtes aller Übel, die Partei stünde nicht länger wie ein Hampelmann hinter Ihnen. Was dann?

Dann wäre Corona genau das richtige für Sie, wahrhaftig ein Geschenk des Himmels. Denn dann könnten Sie den Leuten klarmachen, wohin es führt, wenn man die Grenzen sperrt, die Einwanderung drosselt und das Reisen untersagt. Dann dürften Sie die Polizei aufrüsten, Grundrechte suspendieren, alte Behörden mit neuen Kompetenzen ausstatten und sich Strafen ausdenken, die in keinem Gesetzbuch vorgesehen sind – Not kennt schließlich kein Gebot.

Kurz und gut: Sie könnten dem Trieb, der in der Politik der mächtigste ist, dem Hunger nach Macht und Einfluß, die Zügel schließen lassen, ohne zu befürchten, daß Ihnen jemand vorschnell in die Parade fährt.

Denn alles, was Sie unternähmen, diente ja dem Schutz des höchsten, nein: des einzigen Gutes, über dessen Wert sich die große, bunte, diverse, grenzenlose, globalisierte, multikulturelle Welt noch einig ist, dem Schutz der Gesundheit. Um die zu erhalten oder wiederherzustellen ist schlechthin alles erlaubt. Die Formel „Bleiben Sie gesund!“ hat ja nicht zufällig das ehedem gebräuchliche „Schönen Tag auch noch!“ ersetzt.

Jetzt, da die Karenzzeit zu Ende geht und die Kosten des Abstandhaltens fühlbar werden, kann die Regierung vor die Bürger treten und sie fragen: Wolltet ihr das? Auf die vielen schönen Dinge verzichten, die ihr genießen konntet, weil ihr euch im Kinderglauben an den immerwährenden Fortschritt daran gewöhnt hattet, das Zweitauto, den dritten Urlaub und das vierte Smartphone, den australischen Rotwein, das Rinderfilet aus Argentinien und die Uhr mit dem Kroko-Armband für selbstverständlich zu halten?

Wollt ihr in Zukunft auf die billigen Dienstboten verzichten und eure Pakete selbst austragen, eure Büros selber putzen und selbst den Müll zusammenkehren, den ihr in Massen hinterlasst? Anders gefragt: Wollt ihr für die Folgen eures exzessiven Lebensstils selbst aufkommen oder andere bezahlen lassen? 

Die Frage stellen heißt die Antwort kennen. So haben sich die Deutschen das Leben auf Distanz natürlich nicht vorgestellt. Sie wollen das Spaß-Leben noch ein bißchen weiterleben, und dazu braucht es zweierlei, die offenen Grenzen und die falschen Preise. Nur wenn die Preise lügen, kann man für ein Taschengeld nach Mallorca fliegen und die Kreuzfahrt in die Karibik zum Schnäppchenpreis von 399 Euro ergattern.

Und nur wenn die Grenzen offen sind, kann man die armen Schlucker importieren, die alles das erledigen, für was kein Deutscher mehr zu haben ist: den Spargel stechen, die Schweine schlachten und die Kartoffeln aus der Erde buddeln, auf die man im Mai nicht gern verzichten will. 

Zu schweigen von den Siechen und den Hochbetagten, die in ihren Altensilos satt und sauber gehalten werden sollen: Von wem, wenn nicht von irgendwem, nur nicht von uns?

Die Deutschen sind auf Zuzug angewiesen, wollen das aber nicht wahrhaben. Sie sprechen nicht von Einwanderungsgesetz, sondern von Fachkräftezuwanderungsgesetz, obwohl es doch nicht die Spezialisten sind, die fehlen, sondern die modernen Tagelöhner, die irgendwelche unentbehrlichen, aber schlechtbezahlten Tätigkeiten verrichten.

Die Pflegeindustrie würde von heute auf morgen zusammenbrechen, sollte Horst Seehofer die Grenzen wirksam kontrollieren; wo blieben dann die Polinnen, die den Vietnamesinnen gefolgt sind und denen weitere Pflegekräfte aus aller Welt folgen werden, weil ohne Nachschub die Seniorenrepublik Deutschland heute schon am Ende wäre?

Ganze Wirtschaftszweige hängen am Tropf, rufen nach Arbeitskräften und werden erhört werden: denn warum sitzt Sigmar Gabriel im Aufsichtsrat der Deutschen Bank, wozu ist Dirk Niebel für Rheinmetall und Hildegard Müller für die deutschen Autobauer tätig? Sie alle fordern: Grenzen auf! Die AfD denkt ebenso, auch sie will die Wirtschaft möglichst schnell wieder hochfahren, sie hat sich nur daran gewöhnt, mit gespaltener Zunge zu sprechen, und sagt deswegen ja und nein zugleich. 

Wachstum ist nötig, darüber sind sich alle Parteien einig; und Wachstum verlangt offene Grenzen. Heiko Maas und Jean Asselborn sind vorangegangen, haben sich an der Grenze getroffen, die Sperren beseitigt, die Masken vom Gesicht genommen und das Wiederaufleben der vier europäischen Freiheiten, des freien Austauschs von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräften, gefeiert. Die Wirtschaft soll brummen, der Bürger kaufen, reisen und sich amüsieren wie zuvor. Angela Merkel verspricht die Rückkehr in die Welt von gestern: sollten die Wähler ihr dafür nicht dankbar sein?






Dr. Konrad Adam war Feuilletonredakteur der FAZ und Chefkorrespondent der Welt.