© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

„Der Höhepunkt der Krise kommt noch“
Die Asylkrise von 2015 gilt weitgehend als „geschafft“. Doch das ist ein Irrtum, warnt der Ökonom Fritz Söllner. In seinem neuen Buch zeigt er, wie falsch und gefährlich diese Annahme ist und warum wir uns ohne eine neue Einwanderungspolitik wohl ruinieren werden
Moritz Schwarz

Herr Professor Söllner, die Grenzkontrollen im Zuge von Corona sollen wieder aufgehoben werden. Ein richtiger Schritt?

Fritz Söllner: An sich ja, allerdings hat sich nun gezeigt, daß, anders als behauptet, es doch möglich ist, Grenzen zu schließen. Und mit Blick auf eine rationale Migrationspolitik sollte, wenn die Binnengrenzen wieder geöffnet werden, endlich die strenge Kontrolle der EU-Außengrenze umgesetzt werden, die den Bürgern immer versprochen wurde. 

Die Migrationspolitik der Bundesregierung ist für Sie nicht „rational“? 

Söllner: Nein, sonst würde ich in meinem Buch ja keine solche fordern. 

Aber laut Politik und etlicher Medien ist die Chaospolitik in Sachen Asyl vorbei. 

Söllner: Davon kann keine Rede sein. Eben deshalb habe ich mein Buch geschrieben. Die Erkenntnisse, die ich darin darlege, sind in der Fachwelt zwar so gut wie unbestritten, dennoch sind sie aber nicht in der öffentlichen Debatte angekommen. Vermutlich, weil es von Politik und einigen Medien so gewollt ist. Weil sich sonst der Eindruck, die Krise sei großenteils bewältigt, nicht aufrechterhalten läßt. Deshalb habe ich auch kein Fach-, sondern ein Sachbuch geschrieben: Es ist also nicht für die Kollegen, sondern für die Öffentlichkeit verfaßt und für jedermann verständlich. 

Die Politik will nicht, daß die Sicht der Experten zu den Bürgern durchdringt?

Söllner: Wie anders ist zu erklären, daß diese sich den Erkenntnissen der Fachleute verweigert und bei den Bürgern einen Eindruck erweckt, der mit der Expertensicht unvereinbar ist? 

Was konkret stimmt denn an der Darstellung der Politik nicht?

Söllner: Zum Beispiel, daß wir nach dem Ausnahmezustand 2015 zu einer vernünftigen Migrationspolitik zurückgefunden hätten. Mindestvoraussetzung ist, daß eine Politik definierte Ziele hat. Schon die fehlen unserer Migrationspolitik aber selbst nach fünf Jahren noch. Das gleiche gilt übrigens in puncto Kosteneffizienz. Und von der Frage, wie viele und wer überhaupt im Land ist und wo sich diese Personen befinden, sowie daß wieder Recht und Gesetz vollzogen werden, will ich gar nicht erst anfangen. Und schließlich kann man nicht einmal erkennen, daß die Politik ernsthaft versucht, diesen Zustand wenigstens in Zukunft zu ändern. Zu beobachten ist vielmehr, daß sie offensichtlich darauf setzt, sich auch künftig durchzuwursteln.

Wird versucht, die Kosten der Migration vor den Bürgern zu verheimlichen? 

Söllner: Das ist mein Fazit. Denn es war mir unmöglich, Zahlen für eine Gesamtkostenrechnung zu bekommen, da die Kosten gar nicht erfaßt werden. Vermutlich weil man Angst vor den Folgen hat, würden die den Bürgern bekannt.

Könnte statt Absicht nicht auch schlicht Ämterwirrwarr dahinterstecken?

Söllner: Das hatte ich zunächst auch geglaubt. Bis mir jemand bestätigte, daß es zu Beginn der Asylkrise eine Anweisung des sächsischen Innenministeriums gab, keine extra Kostenstelle dafür zu bilden, sondern die Ausgaben dafür auf die übrigen zu verteilen. Es ist also zumindest für Sachsen belegt, daß gezielt Intransparenz geschaffen wurde! 

Wenn die migrationspolitischen Mißstände „in der Fachwelt so gut wie unbestritten“ sind, wie Sie sagen – wie ist es dann möglich, daß Politik und etliche Medien ein anderes Bild zeichnen? Dann müßten die Experten doch bei jeder Gelegenheit widersprechen und der Trug würde offenbar. 

Söllner: Das tun einige auch, prominentestes Beispiel ist Hans-Werner Sinn. Andere aber tun es nicht. Und ich verhehle nicht, daß ich da enttäuscht von Teilen meiner Kollegenschaft bin. Dann gibt es noch solche, die das immerhin in Fachzeitschriften publizieren – die werden aber natürlich von der breiten Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. 

Warum ist das so? Haben die Kollegen Angst?

Söllner: Einige auf jeden Fall. Ich habe immer wieder erlebt, daß mir Kollegen zustimmend auf die Schulter geklopft haben. Aber meinten, sie hätten sich nicht getraut, das öffentlich so zu sagen. 

Die Experten wissen also Bescheid, schauen aber der Desinformation der Öffentlichkeit aus Furcht vor Sanktionen tatenlos zu? 

Söllner: Wie gesagt nicht alle, aber etliche ja. Das ist zumindest mein Eindruck. Denn ich habe noch keinen einzigen Kollegen getroffen, der meine Ergebnisse ernstlich in Frage gestellt hätte!

Das ist ja unheimlich. 

Söllner: Das finde ich auch. Doch gilt meiner Erkenntnis nach keineswegs nur für die Ökonomen, sondern zum Beispiel auch für Staatsrechtler: Wer, unter den renommierten Vertretern der Zunft, außer Hans-Jürgen Papier und Rupert Scholz, traut sich denn noch, darauf hinzuweisen, daß die Grenzöffnung 2015 rechtswidrig war?

Sie werten die Migrationskrise sogar als eine größere Herausforderung als die Klimakrise – was ist mit der Corona-Krise?

Söllner: Wenn Sie damit das meinen, was die Politik daraus gemacht hat, dann könnten die sozioökonomischen Folgen der äußerst schwerwiegenden Anti-Corona-Maßnahmen möglicherweise – sicher kann das wohl keiner voraussagen –, die der Migrationskrise wohl sogar noch übertreffen. Was dagegen den Vergleich mit der Klimakrise angeht: da wiegen die Folgen der Migrationskrise sicher schwerer – und zwar weil sie sehr konkret sind. Ich beschreibe sie im Buch ja ausführlich, etwa die Belastung der öffentlichen Haushalte, Sozialsysteme, Mieten, des Arbeitsmarkts etc. Die Entwicklung der Klimakrise und ihre Folgen sind dagegen sehr unklar und basieren mehr auf Annahmen als soliden Prognosen. Zudem ist sie eine externe Herausforderung, die nicht unsere Gesellschaft als solche in Frage stellt. Dagegen hat die Migrationskrise das Potential, sie grundlegend zu verändern. Und vor allem – und das ist selbst den meisten kritischen Bürgern nicht klar – selbst die Asylkrise von 2015 ist nicht nur „noch nicht vorbei“, sondern im Gegenteil: ihr Höhepunkt steht uns noch bevor!

Wie denn das? Allenfalls können wir doch unter ihren Nachwehen leiden. 

Söllner: Da muß ich ausholen: Zunächst einmal, warum die Migrationskrise keineswegs „geschafft“ ist: Erstens, weil wir immer noch eine ungesteuerte und unkontrollierte Zuwanderung von etwa 200.000 Personen im Jahr haben – inklusive Familiennachzug und EU-Resettlementprogramm. Zweitens, die gekommenen Migranten sind zu etwa 95 Prozent nicht oder nur gering qualifiziert und die große Mehrheit von ihnen noch längst nicht stabil in den Wohnungs- und Arbeitsmarkt integriert. Man könnte die Krise von 2015 in zwei Phasen teilen: die erste dauerte je nach Migrant ein halbes bis zwei Jahre, nämlich bis dieser das Asylverfahren durchlaufen hat. Bleibt er, beginnt die zweite Phase, in der er in den Arbeits- und Wohnungsmarkt integriert wird. Das dauert im Schnitt weitere drei bis fünf Jahre. Die meisten, die 2015 gekommen sind, sind in dieser Phase – und haben wegen geringer Qualifikation keinen oder allenfalls einfache Jobs. 

Gibt es nicht noch eine dritte, eigentliche Phase, die dann erreicht ist, wenn deren Mehrheit mehr Steuern und Sozialabgaben einzahlt als empfängt? Schließlich sind Einwanderer doch erst dann wirklich sozialökonomisch integriert, wenn sie im Schnitt das gleiche leisten wie die Einheimischen. Und erst dann kann doch davon die Rede sein, daß wir die Asylkrise 2015 wirklich „geschafft“ haben, wie die Kanzlerin versprochen hat. Wann ist das erreicht?

Söllner: Also wenn das Ihr Maßstab für das „Wir schaffen das“-Versprechen ist, muß ich sagen: aller Voraussicht nach nie. Denn wie der renommierte Kollege Bernd Raffelhüschen errechnet hat, wird uns jeder dieser Migranten bis zu seinem Lebensende durchschnittlich 207.000 Euro kosten.

Also ist entgegen Merkels Versprechen die Asylkrise 2015 zu unseren Lebzeiten nicht zu „schaffen“, sondern wir werden für sie bis zu unserem Lebensende zahlen müssen?

Söllner: Das kann man so sehen, ja. Wobei die Kanzlerin sicher ein anderes Verständnis hat.

Sie gehen doch sogar noch weiter und sagen, selbst wenn gelänge, was allen seriösen Voraussagen nach nie eintreten wird, nämlich die Integration aller Flüchtlinge ins Segment der Leistungsträger, würde das nur ein neues Problem schaffen.

Söllner: Richtig, ich nenne es das „Dilemma der Integration“, und es beginnt allerdings schon in Phase zwei. Denn sobald das eine Problem – daß Asylbewerber durch staatliche Leistungen versorgt werden müssen – gelöst ist, indem sie nach ihrer Anerkennung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt erfolgreich sind und sich selbst versorgen, entsteht gerade daraus das nächste Problem: nämlich daß dort Konkurrenz und Verdrängung zunehmen und Wohnungen und Arbeitsplätze knapper werden, Mieten steigen und Einkommen sinken. 

Die Probleme lösen sich also nie, sondern werden immer nur verschoben? 

Söllner: „Nie“ würde ich nicht sagen. Aber zu unseren Lebzeiten werden sie fortbestehen. Sie nehmen nur andere Formen an, so daß sie uns schließlich nicht mehr erscheinen wie durch die Asylkrise verursachte Probleme, obgleich sie es sind. Nun aber zu Ihrer Frage vorhin.

Welche war das?

Söllner: Warum es ein so großer Irrtum ist, davon auszugehen, daß die größte Herausforderung der Asylkrise 2015 inzwischen „geschafft“ sei – und mittlerweile ginge es doch „nur noch um die Nachwehen“. Sowie, warum die größte Herausforderung der Asylkrise 2015 nicht etwa hinter uns liegt, sondern uns immer noch bevorsteht: Entscheidend ist nämlich eine Frage – ahnen Sie welche? 

Helfen Sie mir. 

Söllner: Wann fallen diese durchschnittlich 207.000 Euro Kosten pro Migrant eigentlich an? Antwort: Weder war das bereits der Fall, noch passiert das jetzt. Denn diese Kosten entstehen größtenteils überhaupt erst in der Zukunft. Erstens weil die Migranten noch jung sind und so den Gesundheitssektor vergleichsweise wenig kosten. Erst wenn sie alt und krank sind, wird es teuer. Zweitens hatten wir bis zum Beginn der Corona-Krise eine gute Konjunktur, sprich viele Jobs für diese Einwanderer. Ändert sich das aber – vielleicht schon jetzt, wenn Corona uns in einen langfristigen Abschwung führt –, werden viele arbeitslos und wieder auf staatliche Unterstützung angewiesen sein. Auch hier kommen die eigentlichen Kosten noch. Deshalb also, das sollte uns bewußt sein, steht uns die eigentliche finanzielle Herausforderung durch die seit 2015 anhaltende Asylkrise noch bevor!

Die Kosten unserer „Refugees-welcome“-Politik bezahlen also zum größten Teil nicht wir, die wir, wenn sie anfallen, gar nicht mehr erwerbstätig sind, sondern wir bürden sie der folgenden Generation auf?

Söllner: Im Grunde ja. Allerdings sind die 207.000 Euro pro Migrant immer noch nicht alles. Dazu kommen weiterhin Kosten, die wir durchaus heute schon bezahlen. Etwa unmittelbare Kosten zur Flüchtlingsversorgung – für Unterkunft, Ernährung, Taschengeld, Kleidung, medizinische und soziale Betreuung, Sprach- und Integrationskurse etc. Diese habe ich im Buch – konservativ – auf zwanzig Milliarden Euro pro Jahr berechnet. Und zu diesen unmittelbaren kommen weiterhin mittelbare Kosten – die man allerdings nicht so genau berechnen kann – , wie etwa zusätzliche Polizeikräfte, Verwaltungsbeamte, Richter für Asylverfahren etc. Das sind nochmal etwa zehn Milliarden Euro – ebenfalls konservativ gerechnet. Zusammen also mindestens dreißig Milliarden pro Jahr. Wobei sie tatsächlich höher sein dürften, denn andere Berechnungen, die nicht so konservativ wie meine, aber auch nicht unseriös sind, kommen auf vierzig bis fünfzig Milliarden Euro pro Jahr.

Das sind dann aber die Gesamtkosten? 

Söllner: Immer noch nicht, denn es kommen ja weiterhin pro Jahr etwa 200.000 Flüchtlinge, wenn der Zustrom so bleibt. So aber wächst die Menge der zu versorgenden Migranten insgesamt ständig an, da weit weniger als 200.000 pro Jahr in den Arbeitsmarkt weiterwechseln. Und so wachsen natürlich auch jedes Jahr die unmittelbaren und mittelbaren Kosten. Und auch das ist noch nicht alles. Zwei weitere Kategorien – wenn man wirklich alle Kosten berücksichtigen will – sind zu nennen: Erstens Kosten infolge außerökonomischer Konsequenzen von Zuwanderung – etwa durch gestiegene Terrorgefahr oder Kriminalitätsrate, deren Bekämpfung ja auch Geld kostet und die Schäden verursachen. Diese Kosten exakt zu berechnen ist allerdings extrem schwer, weil etwa islamischer Terror ja keineswegs nur von Flüchtlingen ausgeht. Zweitens Kosten, die durch das genannte „Dilemma der Integration“ entstehen, also Mietsteigerungen und Einkommensverluste für die Bürger durch gestiegenen Konkurrenzdruck. Doch auch die lassen sich kaum zuverlässig berechnen, da gestiegener Konkurrenzdruck durch Migration ja nur ein Faktor von mehreren auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt ist. Mieten und Löhne werden natürlich nicht hauptsächlich durch Migranten, sondern durch ein Bündel anderer Faktoren beeinflußt. Aber die Migranten sind schon ein spürbarer Faktor. 

Kann man diesen in Zahlen ausdrücken? 

Söllner: Ich würde schätzen, daß er zehn bis zwanzig Prozent ausmacht – aber Vorsicht: Das ist nur eine Schätzung, keine berechnete Zahl! 

Was ist die Folge all dessen? 

Söllner: Nach meiner Prognose wird die Migrationskrise erheblich dazu beitragen, uns immer tiefer in eine Strukturkrise zu führen, mit immer härteren Verteilungskämpfen und einer immer stärkeren Beschneidung des Sozialstaats. 

Warum? 

Söllner: Weil durch die vielen Kosten – nicht nur, aber auch infolge der Migration – nicht mehr genug Geld da sein wird, die Leistungen zu finanzieren. Erst recht nicht nach Corona! Natürlich wird es keinen Knall geben und der Sozialstaat ist weg. Aber die Politik wird ihn immer weiter beschneiden – bis wir ihn eines Tages nicht mehr wiedererkennen. Deshalb ist es so wichtig, endlich zum Beispiel jene Reformvorschläge für eine rationale Migrationspolitik umzusetzen, die ich am Ende meines Buches formuliert habe. Sonst werden wir eines Tages vor deren dramatischen Folgen stehen, die sich die meisten heute kaum vorstellen können.         






Prof. Dr. Fritz Söllner, ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der TU Ilmenau. Zuvor lehrte er an der Universität Bayreuth und war John F. Kennedy-Fellow in Harvard. Seit Ende der neunziger Jahre beschäftigt er sich mit migrationspolitischen Fragen. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt erschien: „System statt Chaos. Ein Plädoyer für eine rationale Migrationspolitik“. Geboren wurde er 1963 im fränkischen Kronach. 

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