© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Ein Kaffee und ein Wodka
Österreich und Rußland: Beide Länder wollen sich wieder öffnen, trotz verschiedener Pandemie-Entwicklung
Paul Leonhard

Die gravierendsten Einschränkungen der Bürgerrechte wurden in den meisten Ländern aufgehoben, unabhängig davon, ob die Zahl der Infizierten gerade ansteigt oder nicht. Österreich meistert die Krise in einiger Hinsicht beispielhaft. An öffentlichen Orten gilt ein Meter Abstand gegenüber Personen, die nicht dem gemeinsamen Haushalt angehören. In geschlossenen Räumen ist zudem ein Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Museen, Bibliotheken, Freizeitbetriebe wie Bäder, Vergnügungsparks, Tanzschulen, Theater sind noch geschlossen, Veranstaltungen mit mehr als zehn Personen untersagt. Den Betreibern von Beherbergungsbetrieben hat das Bundesgesundheitsministerium in Aussicht gestellt, eventuell ab 29. Mai wieder öffnen zu können. So konnten sowohl die Ansteckungszahlen als auch die Todeszahlen pro Ansteckung unter denen Deutschlands gehalten werden.

Gleichzeitig bemühen sich österreichische Wissenschaftler herauszufinden, auf welchem Weg sich die Erreger verbreiten. Da schon kleinste Veränderungen im Erbgut des neuartigen Coronavirus nachvollziehen lassen, wie sich der Erreger ausbreitet, scheint das möglich. Damit das in Echtzeit erfolgen kann, haben Forscher aus der ganzen Welt seit Beginn der Pandemie Genanalysen von Sars-CoV-2-Viren über die Plattform „Nextstrain“ hochgeladen.

Meiste Ansteckungen gab es in Altenheimen

Die österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) hat etwa 3.800 Corona-Infizierte in Österreich auf zusammenhängende Infektionen untersucht. Daraus ergaben sich nach Angaben von Daniela Schmid, Leiterin der Abteilung Surveillance und Infektionsepidemiologie der Ages, 169 Cluster – sogenannte Ähnlichkeitsstrukturen, von denen sich rund 35 Prozent dem Bereich von Alten- und Pflegeheimen zuordnen ließen. Übertragungen in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in Geschäften konnten dagegen nicht nachgewiesen werden. Inzwischen stieg die Zahl der Untersuchten auf mehr als 4.000, die knapp 200 Clustern zugeordnet wurden.

Ein Großteil aller Wiener Ansteckungen konnte so einem Paketverteilungszentrum in Hagenbrunn zugeordnet werden. „Es zeigt alles nach Hagenbrunn“, sagte der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker im Gespräch mit der APA. Dies habe die genaue Betrachtung der jüngsten Zahlen – viele der in Hagenbrunn tätigen Arbeiter leben in Wien – ergeben. Leiharbeit sei offenbar diesbezüglich ein großes Problem.

Weiterhin definierte die Agentur fünf Clustertypen entsprechend der Quelle der Erstinfektion, und elf verschiedene Settings bei der Verbreitung beispielsweise Freizeitaktivitäten, Arbeitsplatz, Haushalt und Familie, Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime und Kombinationen davon. So steckten sich einzelne Personen oder ganze Gruppen bei Reisen ins Ausland oder bei Kontakten zu ausländischen Touristen im Inland. Anschließend habe sich das Virus vor allem im halböffentlichen Raum wie dem Verteilzentrum verbreitet, so Schmid. Inbesondere ab Mitte März seien die meisten Fälle dieser Kategorie zuzuordnen, ab dem 23. März sei kein aus dem Ausland importierter Fall mehr registriert worden. Österreich hatte mit Beginn der 12. Kalenderwoche (16. März) landesweit strenge Quarantänemaßnahmen verhängt.

Putin fordert Öffnung – Gouverneure entscheiden

Nach den Hochrechnungen einer im Auftrag des österreichischen Wissenschaftsministeriums (BMBWF) von Statistik Austria, dem Österreichischen Roten Kreuz und der Medizinischen Universität Wien durchgeführten Prävalenzstudie waren im Zeitraum vom 21. bis 24. April maximal 10.823 Menschen ab 16 Jahren, die in einem Privathaushalt in Österreich leben, mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 infiziert. Demnach waren maximal 0,15 Prozent der Österreicher zu dieser Zeit angesteckt. Im Vergleich zur ersten Untersuchung Anfang April ist dieser Wert gesunken: Mittlerweile stecken sich weniger Personen an. 

Schmid wiederum verwies in einer Pressekonferenz darauf, daß man beim derzeitigen niedrigen Niveau an Neuerkrankungen die Chance habe, schnell Hotspots zu identifizieren, die richtigen Maßnahmen zu setzen und die Ansteckungsketten abzuschneiden, indem man aktiv alle Kontakte von Erkrankten teste.

In Rußland werden ebenfalls Cluster-Analysen durchgeführt. Dort gab sich die Regierung öffentlich lange der Hoffnung hin, daß das Land vom Virus verschont bleibe. Gegenwärtig erreicht die Epidemie dort ihren Höhepunkt – die Zahl der Neuinfizierten ist an einem Tag um 10.581 Personen gestiegen. Präsident Wladimir Putin hat nun gefordert, daß Wirtschaft und Gesellschaft des Riesenreiches zur Normalität zurückkehren sollten. Bei bald 300.000 Infektionen – den zweitmeisten hinter den USA – schiebt er damit den Schwarzen Peter erneut den Gouverneuren der Regionen zu, die bereits für die zu treffenden Einschränkungen zur Eindämmung der Epidemie zuständig waren und das meist äußerst strikt taten. Allerdings sind die Todeszahlen pro Infiziertem laut den russischen Statistiken mit unter 0,01 vorerst nur ein Viertel so hoch wie in Deutschland.

Ursprünglich sollten die Beschränkungen so lange bestehen, bis es einen Impfstoff oder eine wirksame Behandlung gebe. Noch gilt für Moskau eine Ausgangssperre bis Ende Mai und eine allgemeine Masken- und Handschuhpflicht sowie ein Veranstaltungsverbot.

Großteil der Viren in Rußland kam aus Europa

Um herauszufinden, wie der Erreger das Land erreichte, haben die Wissenschaftler mehr als 4.400 russische Patienten untersucht. Die wenig überraschende Erkenntnis: Der Großteil der Proben stammte offenbar von westeuropäischen Viruslinien ab und sei mehrmals nach Rußland eingeschleppt worden. Nur einzelne Genome seien eher mit bekannten Fällen aus Asien vergleichbar, berichten Forscher um Trevor Bedford, Evolutionsbiologe an der University of Washington. Interessant ist, daß die Varianten des Virus, die in Moskau kursieren, untereinander kaum verwandt sind. Anders stellt sich die Situation in Sankt Petersburg dar, wo sich vor allem eine Übertragung verbreitet und ein großes Cluster mit engverwandten Sars-CoV-2-Viren gebildet hat, die vor allem Proben aus Westeuropa ähneln, so die Wissenschaftler. Der Beginn des Ausbruchs wird auf Anfang März datiert.