© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Selenskyj braucht dringend einen Erfolg
Ukraine: Während beide Seiten unter Corona leiden, gibt es Zeichen der Entspannung zwischen den Separatisten und der Regierung
Mathias Hofen

Noch immer sterben in der östlichen Ukraine fast täglich Menschen bei Gefechten. Die Hoffnungen auf Frieden, die mit dem Amtsantritt von Präsident Wolodymyr Selenskyj im Mai 2019 verbunden waren, haben sich bisher nicht erfüllt. Doch könnte das Coronavirus auch Auswirkungen auf diesen Konflikt haben?

Über 13.000 Menschen hat der Krieg bis jetzt das Leben gekostet, Millionen sind vor den Kriegshandlungen in andere Landesteile geflohen. Waren die ersten zwei, drei Jahre nach dem Einmarsch verdeckt operierender russischer Truppen im Frühjahr 2014 noch von patriotischer Begeisterung erfüllt und dem Gefühl, für die Einheit des Landes zu kämpfen, so machen sich seitdem zunehmend Gefühle von Resignation und Ohnmacht breit. Gerade vor diesem Hintergrund konnte Selenskyj bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2019 einen triumphalen Sieg erringen.

Normandie-Format macht bescheidene Fortschritte

Er hatte den Wählern im Wahlkampf versprochen, möglichst bald Frieden im Landesosten zu erreichen. Damals sagte er: „Jeder hat genug von diesem Konflikt und ist müde.“ Im Dezember 2019 traf er beim Ukrainegipfel in Paris erstmals direkt auf den russischen Präsidenten, der als Hauptunterstützer der Aufständischen in den zwei östlichen Verwaltungsbezirken Donezk und Luhansk gilt. Die Gespräche im sogenannten Normandie-Format mit Kanzlerin Merkel, Putin, Selenskyj und dem französischen Präsidenten Macron brachten nur bescheidene Fortschritte: an drei Frontabschnitten die gegnerischen Einheiten zurückziehen sowie den Austausch von Gefangenen organisieren. Bereits direkt nach den Gesprächen in Paris kam es zu einem Gefangenenaustausch, bei dem etwa 150 Kämpfer übergeben wurden. Eine kleinere Übergabe von Kriegsgefangenen fand dann noch im April 2020 statt. In Paris wurde zudem ein erneuter Waffenstillstand vereinbart, nachdem in der Vergangenheit zwanzig verschiedene Waffenstillstände gescheitert waren. In den Wochen danach wurden jedoch immer wieder Verletzungen der Waffenruhe festgestellt.

Auch in der zwischen Kiew und den Separatisten besonders strittigen Frage der Abhaltung von Wahlen gibt es bisher kaum Bewegung. Im Minsker Friedensplan von 2015 ist vorgesehen, daß in den beiden von den Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk, die sich als „Volksrepubliken“ bezeichnen, Regionalwahlen abgehalten werden und ein Sonderstatus in der ukrainischen Verfassung verankert wird. Bisher beharrte Kiew allerdings auf dem Standpunkt, daß vor dem Zugeständnis von Wahlen ukrainische Einheiten wieder die Kontrolle über die Grenze zwischen den besetzten Gebieten und Rußland übernehmen müssen. Das wiederum ist für die Usurpatoren in Donezk und Luhansk nicht akzeptabel.

Präsident Selenskyj scheint Gespräche mit diesen unterdessen nicht mehr vollkommen auszuschließen. So gelangte im März ein Papier an die Öffentlichkeit, daß die ukrainische Regierung ein Beratergremium plane, welches aus je zehn Vertretern der ukrainischen Regierung und der „Volksrepubliken“ sowie aus je einem Abgesandten der OSZE, Frankreichs, Deutschlands und Rußlands besteht. Nach Angaben von Olexi Resnikov, Minister für die Reintegration der besetzten Gebiete, werde mit der OSZE und den westlichen Staaten darüber verhandelt.

Es ist offensichtlich weiter unklar, von wem sich Kiew und die Separatisten vertreten lassen wollen. Denn wenn ukrainische Regierungsvertreter in das Gremium einzögen, würde dies direkte Verhandlungen mit Aufständischen und Terroristen bedeuten. Bisher war es ein Grundsatz der ukrainischen Politik, direkte Gespräche mit den Vertretern der beiden besetzten Bezirke zu meiden.

Gerade Moskau hatte immer wieder direkte Gespräche zwischen der ukrainischen Führung und den Separatisten gefordert, da es sich nach Kreml-Logik um eine „interne Angelegenheit der Ukraine“ handele.

Verhandlungen: ja, aber worüber eigentlich?

Allerdings stellt sich die Frage, worüber bei Gesprächen mit den Aufständischen überhaupt verhandelt werden könnte. Denn Kiew hält weiterhin an der Einheit der Ukraine fest, so wie es die Landesverfassung vorsieht.

Die Corona-Krise schafft für die Ukraine zusätzliche Probleme. Seit Ende März sind die Grenzen des Landes noch bis mindestens diesen Freitag geschlossen, einreisen dürfen nur ukrainische Staatsangehörige und deren Familien sowie Ausländer mit Aufenthaltserlaubnis. Die ohnehin schwierige wirtschaftliche Situation verschlechtert sich weiter. „Wir sind am Scheideweg. Entweder wir bekommen finanzielle Hilfe oder uns droht die Staatspleite“, erklärte Präsident ­Selenskyj Anfang April in einem Interview.

Angesichts dieser schwierigen Lage im Land braucht Selenskyj dringend einen politischen Erfolg. Ein Friedensvertrag oder zumindest ein dauerhafter Waffenstillstand wären vorzeigbare Ergebnisse. Ohne die Zusicherung einer Autonomie für die mit russischer Unterstützung besetzten zwei Provinzen im äußersten Osten wird dies kaum möglich sein.