© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Bibliothekshauptstadt Berlin im Zeitalter der Amnesie
Gedächtnisspeicher geschlossen
(wm)

Hier gibt es keine für europäische Studien gut ausgestattete Bibliothek, so daß ich auf alle Zeitschriften, die meisten neueren Untersuchungen, ja zuweilen selbst auf eine zuverlässige kritische Ausgabe meiner Texte verzichten mußte“, entschuldigt sich der in der NS-Zeit aus Deutschland vertriebene Romanist Erich Auerbach (1892–1957) im Nachwort zu seiner in den 1940ern im Istanbuler Exil verfaßten „Mimesis“, einem Werk, das Kundige, allen Entstehungswidrigkeiten zum Trotz, als „Höhepunkt dessen“ bewerten, „was die akademische Disziplin Literaturwissenschaft in ihrer Geschichte erreicht hat“. Ob einem sich gegen die „Internationale der Trivialität und der Esperantokultur“ stemmenden Auerbach das gleiche Kunststück 2020 nochmals gelänge? Herrschen doch wie überall auch in Berlin, der deutschen Bibliothekshauptstadt, coronabedingt üblere Verhältnisse als im Entwicklungsland Türkei vor 80 Jahren. Denn die Lesesäle der Staatsbibliothek wie die der drei größten Universitätsbibliotheken bleiben auch im Lockerungsmodus geschlossen. Damit ist historische Forschung abgeschnitten vom Gedächtnisspeicher der Millionen, nur im Lesesaal benutzbaren Bücher und Zeitschriften aus den „Altbeständen“ – allein in Berlin. Und dies, auffällige Koinzidenz, im anbrechenden „Zeitalter der Amnesie“ (Saeed Akhter Mirza), das primär westliche Gesellschaften vom Wissen über ihre eigene Kultur und Geschichte abschneidet, das Europas geistiges Erbe als „rassistisch und sexistisch“, große Texte von Homer bis Heidegger als Überbleibsel „toter weißer Männer“ verhöhnt und täglich Bilderstürme organisiert. 


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