© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Ein entschiedener Moralist
Nachruf: Der Dramatiker Rolf Hochhuth ist mit 89 Jahren gestorben
Thorsten Hinz

Streitlustig und eruptiv, sendungsbewußt und umtriebig – so erlebte man den Schriftsteller Rolf Hochhuth. Selber kannte er auch den Selbstzweifel. In einem späten Gedicht schrieb er: „Meine Generation, die der Tod nun beschleicht/ – hinterlassen wir eine Spur? Ist jetzt wer da, der Nabokow, Arthur Miller gleicht? Hamsun? Beckett? Kästner?“ Eine rhetorische Frage, die ihre Verneinung einschließt. Die Verse enthalten die kritische Bilanz der engagierten und moralisierenden Literatur der Bundesrepublik, deren politisch-operative Wirkung im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrem ästhetischen Rang stand und für die Hochhuths Werk exemplarisch ist.

1963 landete er mit dem Theaterstück „Der Stellvertreter“ einen Welterfolg. Das Drama um Papst Pius XII., der die nationalsozialistische Judenverfolgung – angeblich – mit Desinteresse registriert und sich mit diplomatischen Floskeln begnügt, statt öffentlich Protest zu erheben, wurde in 25 Ländern aufgeführt. Ein Donnerwort des Pontifex, suggerierte der Autor, hätte die Judenvernichtung stoppen können, doch das Interesse, Hitler als Bollwerk gegen die Sowjetunion zu erhalten und die Angst um den Kirchenbesitz in Osteuropa seien größer gewesen als die Empörung über den Massenmord. Diese simple Version der Geschichte stieß freilich auch auf zornigen Widerspruch. Am Premierenabend in New York zum Beispiel wurden hundert Polizisten abgestellt, um die Aufführung zu schützen. Ein Plakat warnte die Theaterbesucher: „Hochhuth – Antichrist!“ 

Der ungeheuer belesene und in historischen Detailfragen bewanderte Hochhuth hätte es besser wissen können, doch war er vor allem ein entschiedener Moralist, was seiner Literatur schlecht bekam. Wo Schiller den Tat- und Machtmenschen Wallenstein an der Übermacht der Verhältnisse – den Strukturen, wie man heute sagt – zerbrechen läßt und die Revolutionsführer in Büchners „Dantons Tod“ wie die Handpuppen eines historischen Schicksals erscheinen, betätigte Hochhuth sich als ein Treitschke von links und ließ auf der Bühne Männer auftreten, die Geschichte machen – im Fall von Pius durch Unterlassung.

„Das Theater wäre am Ende, wenn es je zugäbe, daß der Mensch in der Masse kein Individuum mehr sei“, lautete sein ästhetisches Credo. „Das ist doch eine der wesentlichen Aufgaben des Dramas: darauf zu bestehen, so unpopulär das momentan auch klingt, daß der Mensch ein verantwortliches Wesen ist.“ Widerspruch kam ausgerechnet von Theodor Adorno, der spottete, daß Hochhuths Subjekte in Wahrheit nur noch Objekte seien, im übrigen aber hohl und scheinhaft. Die  „Absurdität des Realen“ dränge auf eine Form, „welche die realistische Fassade zerschlägt“ .

Tatsächlich sind Hochhuths Theaterfiguren fleischgewordene Leitartikel. Sie versuchen dem Publikum umständlich zu erklären, was dem Autor auf der Bühne nicht zu zeigen gelingt. Hochhuth verwandelte sich dem größenwahnsinnigen „Theatermacher“ aus Thomas Bernhards gleichnamiger Komödie an, der „das Rad der Geschichte“ zum Drehen bringen will, indem er Cäsar, Napoleon, Metternich, Hitler, Stalin und Churchill auftreten läßt.

Hochhuth hat eine Fülle Theaterstücke und literarischer Texte nach dem erprobten Skandalrezept verfertigt. Der Roman „Eine Liebe in Deutschland“ führte 1977 zum Rücktritt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der als Marinerichter während des Krieges an Todesurteilen mitgewirkt hatte.

Anregungen von David Irving

Die Wiedervereinigung inspirierte ihn zu dem Stück „Wessis in Weimar“, das die Entrechtung der „Ossis“ und die Veruntreuung des DDR-Vermögens durch die Treuhand thematisiert. Sein detailversessenes Dokumentar-Theater stieß hier endgültig an seine Grenze. Sogar ein gewisser Wolfgang Thierse – man erinnert sich noch? – taucht darin auf, wenn auch nur als imaginierter Gesprächspartner am Telefon. In der legendären Inszenierung am Berliner Ensemble 1993 kümmerte Regisseur Einar Schleef sich nicht um die Vorlage und ließt statt smarter Anzugtypen nackte Schauspieler in Uniformmänteln und Knobelbechern auftreten, die eine gefühlte Ewigkeit mit Knüppeln und Äxten bewaffnet rhythmisch über die Bühne stampften und das Haus erzittern ließen: Eine Urwaldhorde, die in den Osten einmarschiert. Hochhuth protestierte heftig gegen die vermeintliche Verhunzung seines Textes. Er verstand nicht, daß Schleef seine Intention viel besser erfaßt hatte, als er sie dramatisch hatte umsetzen können. Kein Wunder, daß die Bühnen, auf denen Hochhuth noch gespielt wurde, immer kleiner wurden.

Zugute ist ihm zu halten, daß er kein Opportunist, vielmehr auf eigene Weise ein Freigeist war. Als Ernst Jünger 1998 starb, druckte die JUNGE FREIHEIT eine achtseitige Sonderbeilage unter anderem mit einem Nachruf von Rolf Hochhuth, der als einziger deutscher Schriftsteller an der Beisetzung teilgenommen hatte. „Er war der letzte lebende Deutschschreibende, der noch zur Weltliteratur gehörte“, hielt Hochhuth über Jünger fest. „Sein Bestes wird man lesen, so lange man Deutsch liest.“ Sogar Knut Hamsun, der immerhin den Nationalsozialismus propagiert hatte, stellte er in den eingangs zitierten Versen künstlerisch über die literarischen Zeitgenossen.

Etliche Anregungen verdankte er dem britischen Historiker David Irving, mit dem ihn ein persönliches Verhältnis verband. Er bewahrte sich die Loyalität auch noch, als Irving sich in wirre Thesen verrannte. Im Interview mit dieser Zeitung 2005 nannte er ihn einen „fabelhaften Pionier der Zeitgeschichte“. Daraufhin beschuldigte der Präsident des Zentralrats der Juden ihn, den Holocaust zu leugnen. Es war beklemmend, Hochhuth, den ständigen Ankläger, plötzlich in der Position des Angeklagten zu sehen, der um seine  Gesellschaftsfähigkeit bangte. Der sich als Vorkämpfer der Aufklärung über die Judenverfolgung verstand, war unversehens von der „dialektischen Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft“ (T. W. Adorno) eingeholt worden.

Rolf Hochhuth, der vergangene Woche im Alter von 89 Jahren gestorben ist, wird seine letzte Ruhe auf dem St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg finden, direkt neben dem Grab der Brüden Grimm.