© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Rechtsstaat konkret: Die Justiz als Stiefkind der Politik
Recht ohne Lobby
Gerd Seidel

Politiker loben häufig mit hehren Worten den deutschen Rechtsstaat. In der Tat ist das Rechtsstaatsprinzip als tragender Grundsatz der Staatlichkeit zugleich in mehreren Artikeln des Grundgesetzes verankert. Der Bürger beurteilt die Rechtsstaatlichkeit allerdings immer konkret, nämlich anhand seiner Erfahrungen mit den staatlichen Behörden, der Polizei und der Justiz. Sein Vertrauen in diese Institutionen schwindet in dem Maße, wie der Staat versäumt, seinen Pflichten zur Einhaltung der Gesetze und zur Gewährleistung von Rechtsschutz und Rechtssicherheit für die Bürger nachzukommen.

Es muß wie eine Alarmsirene tönen, wenn der Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, in seinem 2019 veröffentlichten Buch „Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird“ von der Gefahr der erodierenden Rechtsstaatlichkeit spricht. Und zugleich gehen amtierende Richter mit langjähriger Berufserfahrung wie Patrick Burow (2018), Jens Gnisa (2017) und Thorsten Schleif (2019) mit ihren Büchern an die Öffentlichkeit, worin sie die katastrophalen Mißstände in der deutschen Justiz schonungslos offenlegen und deren Auswirkungen auf die Rechtsprechung beschreiben.

Eine wesentliche Ursache für die Misere ist, daß die Justiz als Stiefkind der Politik seit Jahren, vor allem durch Stellenstreichungen, kaputtgespart wurde. Justiz verursacht Kosten, bringt aber kaum Einnahmen. Sie ist ohne Lobby. Ihr Anteil am Bundeshaushalt beträgt lediglich 0,25 Prozent. Hinzu kommt, daß zumeist schwache Persönlichkeiten als Justizminister agierten. Allein die letzten drei von der SPD benannten Justizminister Maas, Barley und Lambrecht glänzten weniger durch Fachkompetenz als mehr durch ihre stramme linke ideologische Haltung vor allem im „Kampf gegen Rechts“.

Der bis heute anhaltende Sparkurs, in dem sich gleichzeitig der Stellenwert ausdrückt, den die Politik dem Rechtsstaat beimißt, zeigt sich nicht nur in der miserablen Besoldung der Richter, sondern auch in der schlechten Bezahlung des übrigen Personals, in der vielfach völlig veralteten Sachmittelausstattung und in dem oft maroden Zustand der Gerichtsgebäude. So hat ein Richter ein monatliches Anfangsgehalt von etwa 4.000 Euro brutto, was der Bezahlung des Filialleiters eines Discounters entspricht. 15 Jahre später liegt seine Besoldung immer noch bei etwa 6.500 Euro.

„Eines der reichsten Länder Europas ist gleichzeitig eins mit einer der niedrigsten Richterbesoldung“, schreibt Patrick Buhrow in seinem Buch „Justiz am Abgrund“. Bei der anhaltenden Überlastung, die zu einem hohen Krankenstand und häufigem Burnout führt, können die deutschen Richter mit dieser mageren Besoldung nicht wirklich unabhängig sein, wie es das Grundgesetz fordert.

Unter den gegebenen Umständen können die Rechtsuchenden hierzulande oft froh sein, wenn überhaupt noch Gerichtsverhandlungen stattfinden und Urteile ergehen. Denn Richter und Staatsanwälte müssen angesichts des Personalmangels und der knappen Sachausstattung heutzutage multipel einsetzbar sein: Sie schreiben oft eigenhändig Protokolle, Beschlüsse und Urteile, bedienen das Kopiergerät und schleppen die Akten herbei.

Richter und Staatsanwälte sind einem sachfremden Zeitkorsett unterworfen, wonach für die einzelnen Arbeitsgänge völlig unrealistische Zeitvorgaben gemacht werden, so als wäre der Umgang mit Menschen Vorgängen in der Produktion vergleichbar.

In der Vergangenheit wurden die besten Juraabsolventen mit mindestens einer vollbefriedigenden Note für das Richteramt ausgesucht. Angesichts der schlechten Bezahlung und der Arbeitsbedingungen in der Justiz gehen heute die besten Juristen in große Anwaltskanzleien, wo sie ein Vielfaches des Richtergehaltes verdienen. So müssen bei der Richterauswahl oft Abstriche bei der Abschlußnote gemacht werden. Daß dies negative Auswirkungen auf die Qualität der Rechtsprechung hat, bedarf keiner näheren Erläuterung.

Die prekäre Situation in der Justiz wurde noch dadurch verschärft, daß Richter und Staatsanwälte seit 2014 einem von einer justizfremden Wirtschaftsprüfungsvereinigung entworfenen Zeitkorsett unterworfen sind, wonach für die einzelnen Arbeitsgänge völlig unrealistische Zeitvorgaben gemacht werden, so als wäre der Umgang mit Menschen mit Vorgängen in der Produktion vergleichbar. Richterliche und staatsanwaltliche Tätigkeit wird so praktisch zu Fließbandarbeit degradiert.

Beispielsweise werden dem Amtsrichter für ein Scheidungsverfahren 131 Minuten zugebilligt, ein Staatsanwalt muß die Anklage einer fahrlässigen Tötung in 50 Minuten erledigt haben usw. Gefordert wird somit Gerechtigkeit im Minutentakt!

Das stellt die Richter vor ein Dilemma: Entweder sie halten sich an diese unsinnigen Zeitvorgaben, dann unterlaufen ihnen allerdings nicht selten Fehler, was sich auf die Qualität der Rechtsprechung negativ auswirkt. Oder sie arbeiten die Fälle mit der gebotenen Gründlichkeit ab, dann bleiben andere Fälle notwendigerweise liegen, und es entsteht ein Verfahrensstau mit überlanger Verfahrensdauer. So passiert es immer wieder, daß Personen, die schwerer Verbrechen beschuldigt werden, aus der Untersuchungshaft entlassen werden müssen, weil das Hauptverfahren nicht innerhalb der vorgeschriebenen sechs Monate eröffnet wurde.

In bezug auf Alltagsdelikte wie Einbrüche, Fahrrad-, Taschen- und Ladendiebstähle heißt dies, daß sie kaum noch verfolgt werden, allein schon deshalb, weil die Aufklärungsquote infolge der Stellenstreichung bei der Polizei stark zurückgegangen ist. Polizei und Justiz haben bei der Strafverfolgung von Wohnungseinbrüchen faktisch kapituliert, denn die Aufklärungsquote liegt bei der Polizei bei 15 Prozent, und nur ein Bruchteil wird vor Gericht verhandelt. Auch die Tatsache, daß die Zahl der Wohnungseinbrüche seit Ergreifung der Maßnahmen gegen die Coronapandemie zurückgegangen ist, vermag diese prinzipielle Aussage kaum zu relativieren, zumal eine Reihe von Gerichten in dieser Zeit ohnehin ein reduziertes Arbeitsprogramm hatte.

Als weiteres Defizit fällt die im Volksmund als „Kuscheljustiz“ bezeichnete milde Strafpolitik auf. Sie wird, insbesondere bei Mehrfachtätern mit einer stattlichen Zahl von Vorstrafen, als Anreiz für die Begehung weiterer Straftaten gesehen, erst recht dann, wenn einschlägige Bewährungsstrafen in Folge nicht vollzogen werden. Fälle der Kuscheljustiz stoßen allgemein auf Ablehnung, und sie demotivieren die Polizei, die darin eine Mißachtung ihrer Arbeit sieht.

Die milde Strafpolitik hat verschiedene Ursachen. Da die Landgerichte als sogenannte Rabattgerichte die vom Amtsgericht ausgesprochene Strafhöhe regelmäßig herabsetzen, entscheiden sich Amtsrichter oft von vornherein für den unteren Strafrahmen. Zudem haben mittlerweile auf den Richterstühlen Gutmenschen Platz genommen, die offenbar von der geringeren Bewerberzahl für das Richteramt profitierten. Schließlich sind die Gefängnisse in einigen Bundesländern bereits jetzt, vor allem auch mit ausländischen Straftätern, so gut ausgelastet, daß eine härtere Strafpolitik allein an der Kapazität der Haftanstalten scheitern könnte.

Die Hochkultur der Kuscheljustiz wird im Jugendstrafrecht zelebriert. Die dort zugrundeliegende Maxime „Erziehen statt strafen“ wird durch die Rechtsprechung meist überzogen und in Verkennung des Wesens des Strafrechts als steriles Dogma behandelt, das heißt, es wird auf Strafe oft auch dort verzichtet, wo sie geboten wäre. Hinzu kommt, daß die im Gesetz als Ausnahme vorgesehene Bestimmung, wonach auch Täter zwischen 18 und 21 Jahren unter bestimmten Bedingungen nach dem milderen Jugendstrafrecht beurteilt werden können, durch die Gerichte fast zur Regel erhoben wurde.

Der vom Gesetz harmlos als „Verständigung“ umschriebene „Deal“ ist ebenfalls eine Konzession an die permanente Über­belastung der Gerichte. Da hierbei keine Beweiserhebung erfolgt, bleiben Wahrheit und Gerechtigkeit regel­mäßig auf der Strecke.

Die Ausländerkriminalität ist in Deutschland ein brisantes Thema. Statistische Zahlen der „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“ können dem jährlichen Bundeslagebild des Bundeskriminalamtes entnommen werden. Die Behandlung der von Immigranten begangenen Straftaten durch die Gerichte ist dagegen statistisch nahezu tabuisiert. Dennoch ist seit 2015 die Tendenz unübersehbar, daß Gerichte straffällig gewordene Immigranten häufig mit besonderer Nachsicht behandeln und – soweit diese überhaupt belangt werden – regelmäßig mit geringeren Strafen belegen, als es rechtlich geboten wäre.

Das gilt nicht zuletzt auch für ausländische Täter von Gewalt- und Sexualdelikten, deren Zahl seit dem unkontrollierten Einlaß von kulturfremden Menschen nach Deutschland im Jahre 2015 stark angestiegen ist. Während Immigranten bei der Strafzumessung oft mit einem kulturellen Rabatt rechnen können, wird von Deutschen hingegen auf allen Rechtsgebieten, einschließlich des Verkehrs- und Steuerrechts, unbedingte Rechtstreue erwartet. Hier entsteht ein Zweiklassenrecht, das dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit diametral entgegensteht.

Der vom Gesetz harmlos als „Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten“ umschriebene „Deal“ ist ebenfalls eine Konzession an die permanente Überbelastung der Gerichte. Er ist im Grunde nichts anderes als ein kodifizierter Verzicht auf die Strafhoheit des Staates, das heißt auf dessen Gewaltmonopol. Denn in der Person des Anwalts verhandelt der Angeklagte praktisch mit über seine Schuld und Strafzumessung. Insbesondere in Fällen mit unklarer Beweislage fordern Anwälte gern eine Bewährungsstrafe im Tausch gegen ein Geständnis ihres Mandanten. Richter denken in dieser Situation an die durch den Deal zu gewinnende Zeit, die sie für die Reduzierung ihrer Aktenberge benötigen, und stimmen dem zu.

Freilich kann die Initiative für den Deal wegen der erwarteten Verfahrenskürzung auch vom Richter oder vom Staatsanwalt ausgehen. Da beim Deal keine Beweis-erhebung erfolgt, bleiben Wahrheit und Gerechtigkeit regelmäßig auf der Strecke.

All diese beklagenswerten Zustände, die man in entsprechender Weise auch in anderen Zweigen der Justiz wie der Zivil- oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit findet, haben zu einem deutlichen Vertrauensschwund in der Bevölkerung geführt. Die Verhältnisse werden sich aber noch weiter zuspitzen, wenn im kommenden Jahrzehnt eine beispiellose Pensionierungswelle auf die Gerichte zurollt. Wenn der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel die Situation in der Justiz schon im Jahr 2017 so beschrieben hat, daß die Uhr nicht fünf vor, sondern fünf nach zwölf zeigt, dann stellt sich die Frage, wo die Zeiger der Uhr im Jahr 2025 stehen werden. Richter Thorsten Schleif stellt in seinem Buch „Urteil: Ungerecht“ fest: „Die Lage ist ernst. Die dritte Staatsgewalt steht einen Schritt vor dem Abgrund. Ein weiterer Schritt in die falsche Richtung, und sie fällt tief. Sehr tief. Und wir alle fallen mit ihr.“






Prof. em. Dr. Gerd Seidel, Jahrgang 1943, war bis 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker-und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. 

Foto: Aktenberge an einem Landgericht: Richterliche und staatsanwaltliche Tätigkeit wird zur Fließbandarbeit degradiert