© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Gescheiterte Vorbilder
Wandel durch Annäherung: Matthias Platzecks neue Rußlandpolitik orientiert sich an alten Mustern
Peter Seidel

Entspannungspolitik, Ostpolitik, Friedenspolitik – dieser historische Dreiklang erfreut sich auch heute noch nahezu uneingeschränkter Wertschätzung in Deutschland. Denn Anfang der siebziger Jahre führte er zur Grundverständigung mit Osteuropa – mitten im Kalten Krieg. Zehn Jahre später allerdings waren daraus Anti-Nato-Politik, Antiamerikanismus und Anti-Bundeswehr-Kampagnen geworden. Was war passiert? Ein untaugliches neutralistisches Sicherheitskonzept hatte die SPD und ihren außenpolitischen Vordenker Egon Bahr ins sicherheits- und deutschlandpolitische Abseits geführt. Aus historischer Sicht sollte dies heute unbestreitbar sein.

Trotz seines damaligen Scheiterns  ist Egon Bahr für den Vorsitzenden des Deutsch-Russischen Forums und langjährigen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten von Brandenburg, Matthias Platzeck, auch heute noch außenpolitisches Vorbild und idealtypischer Vorkämpfer für eine deutliche Verbesserung der Beziehungen zu Rußland nach den Friktionen der Krim-Annexion, wie sein neues Buch „Wir brauchen eine neue Ostpolitik“ deutlich macht. Wieso Bahr allerdings unter heute völlig andersartigen geopolitischen Bedingungen als im geteilten Deutschland Vorbild für eine erneuerte Rußlandpolitik sein soll, klärt Platzeck nicht – unabhängig davon, daß Bahr mit seinem damaligen Konzept des „Wandels durch Annäherung“ schlichtweg gescheitert ist, denn gewandelt hat sich das SED-Regime bis zum Schluß nun wahrlich nicht, wohl aber hat sich ihm die SPD damals mit gemeinsamen Grundsatzpapieren auch programmatisch angenähert. 

Wer heute glaubt, dies unter den Tisch fallen lassen zu können, erst recht wenn er einmal, wenn auch nur kurzzeitig, SPD-Bundesvorsitzender war, tut damit weder seiner Partei noch einer neuen Ostpolitik einen Gefallen. Er befördert Lebenslügen und schadet damit einer neuen realistischen deutschen und europäischen Ostpolitik nicht zuletzt durch die so weiterhin fehlende kritische Aufarbeitung des damals gescheiterten Versuchs einer „zweiten Phase der Ostpolitik“ und der daraus abgeleiteten Nebenaußenpolitik. Henry Kissinger, der große außenpolitische Denker, Praktiker und Gesprächspartner Bahrs, hatte dieses Ergebnis bereits zu Beginn der Entspannungspolitik befürchtet. Liest man Platzecks Buch, wird jedenfalls nicht klar, wieso es einer neuen sozialdemokratischen dritten Phase ihrer Ostpolitik besser gehen sollte als damals der zweiten.

Überraschend für den Protagonisten einer neuen Politik ist auch Platzecks Konzeption seines Buches. Keine Analyse, kein Konzept: Die ersten hundert Seiten sind eher eine Art Autobiographie, angereichert mit Elogen über seinen außenpolitischen Helden Egon Bahr. Auch in einer Art zweitem Teil beschäftigt sich Platzeck ausführlich lieber mit Rußland an sich und dessen historischen Beziehungen zu Deutschland, zur DDR und ganz persönlich auch zu ihm selbst. Doch auch wenn er dabei erklärterweise den Anspruch erhebt, weder „naiv“ noch „emotional“ zu argumentieren: Schnell wird klar, daß Platzecks Ausführungen unter dem leiden, was man die ostdeutsche Variante des Stockholm-Syndroms nennen könnte: Menschliches, Allzumenschliches dominiert, doch ein Statthalter Moskaus in der DDR wie Pjotr Abrassimow in seinem imperialen Palast Unter den Linden und sein Gebaren dort werden nicht einmal erwähnt! Und: Schostakowitsch, Dostojewski oder Gorbatschow sollte man durchaus schätzen, kann daraus aber keine Untermauerung neuer ostpolitischer Forderungen ableiten! 

Viel zu schwach für eine Begegnung auf Augenhöhe

Interessant und sich dem gewählten Thema dann doch irgendwie nähernd sind die letzten beiden Kapitel, überschrieben mit „Illusionslose Entspannung“ und „Frieden muß gestiftet werden“. Allein, wie die zweite Überschrift schon andeutet, auch hier geht es dann in weiten Teilen eher lyrisch als analytisch zu. Dies ist schade, zeigt aber, daß mit solchen Politikansätzen eine „Begegnung auf Augenhöhe“, wie Platzeck sie fordert, weder für Deutschland noch für die EU möglich ist. Für ihn stellt sich dabei nicht einmal die Frage, wie ein Land wie die Bundesrepublik, das heute kaum mehr zur Selbstverteidigung in der Lage und dabei wie auch die EU völlig von den USA und der Nato abhängig ist, eine solche selbständige Ostpolitik einleiten und durchhalten könnte. Platzeck wünscht sich diese, konzepiert sie aber nicht, selbst wenn diese dem völlig anders gearteten Ansatz der USA, der Nato und ihrer Klientel in Ostmitteleuropa widerspräche. Platzecks Ostpolitik bleibt so wie die seines Vorbildes Bahr eine Dame ohne Unterleib. Wen will er damit überzeugen? Wen als Verbündeten gewinnen?

Für den Vorsitzenden des Deutsch-Russischen Forums ist „Rußland als Partner“ für Deutschland und Europa von zentraler Bedeutung, gerade auch in Zukunft. Daran ist erst einmal überhaupt nichts falsch. Und dies sollte auch am Beginn einer eigenständigen und interessengeleiteten, realistischen deutschen und europäischen neuen Ostpolitik stehen. Für die gibt es durchaus Gemeinsamkeiten mit potentiellen Verbündeten. Denn auch so ganz anders geartete Protagonisten wie Horst Teltschik und Emmanuel Macron wünschen, ja fordern sogar einen Neuanfang in der westlichen Rußlandpolitik. Mit seinem Anliegen steht Platzeck also heute längst nicht allein da. 

Doch gerade als ehemaliger SPD-Bundesvorsitzender hat mit diesem Buch einer guten Sache, einem Neubeginn der Rußlandpolitik in Europa, einen Bärendienst erwiesen. Und er hat auch seiner Partei nicht dabei geholfen, sich von alten Illusionen und Fehlern zu trennen. Im Gegenteil: So werden untaugliche außenpolitische Strategien in die Zukunft transponiert und tragen so dazu bei, alte Fehler zu wiederholen und erneut zu scheitern. Schade!

Matthias Platzeck: Wir brauchen eine neue Ostpolitik. Rußland als Partner. Propyläen Verlag, Berlin 2020, gebunden, 256 Seiten, 22 Euro