© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Der Flaneur
Ein Schritt zur Normalität
Paul Leonhard

Die Bänke rund um den Springbrunnen sind besetzt. Familien flanieren durch die Parkanlage. Ein Mann steht mit einem vollen Bierglas in der Hand – wo er das nur herhat? – im Gespräch mit einem anderen. Die Sonne strahlt. Die Gärtner haben die Rabatten mit bunten Frühlingsblumen bepflanzt und die Polizeistreife dreht beim Anblick der Menschen auf der Stelle um und geht in die andere Richtung.

Kein Wunder, da die verschiedenen Ebenen der Politik derzeit ständig sich widersprechende Signale aussenden, machen die Menschen endlich wieder das, was sie auch sonst machen würden: Das Wetter genießen. Mit ein wenig mehr Distanz als sonst und ohne Einkaufstaschen neben sich, die für Modegeschäfte werben. Die alltägliche Hektik ist abgefallen und einem Müßiggang gewichen.

Vor einem Planungsbüro haben die Mitarbeiter drei Stühle auf den Gehweg gestellt.

Das Signal ist deutlich: Wir sind mündige Menschen und benötigen keine staatliche Bevormundung. Daß etwas nicht stimmt, signalisieren lediglich ein paar Radfahrer mit Mundschutz und eine weit auseinandergezogene Schlange vor dem Postamt. Auch die Begegnungen mit Freunden gleichen sich. Man geht freudig aufeinander zu, bleibt dann abrupt stehen, weil einem wieder einfällt, daß Umarmungen und Begrüßungsküßchen zu gefährlich sind, und tritt wieder einen Schritt zurück. 

Neben einem Dönerstand in einem dunklen Hauseingang sitzt eine Gruppe Menschen auf Campingstühlen, und auf einem Klapptisch steht eine Kiste Bier. Vor einem Barockhaus geht es nicht so rustikal zu. Da haben die Mitarbeiter eines Planungsbüros Stühle im Drei-Meter-Abstand auf den Gehweg gestellt, diese mit weißen Tüchern versehen und sitzen da nun: die beiden Männer telefonieren, die Frau klappert auf der Tastatur ihres Notebooks. Sogar die Antiquarin scheint wieder geöffnet zu haben. Aber als ich näher trete, steht auf dem Schild vor der weitgeöffneten Tür doch „Geschlossen“. Und handgeschrieben darunter: „Ich möchte nur ein wenig frische Frühlingsluft hereinlassen.“