© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Grüße aus London
Geist und Gespenst
Derek Turner

In England, so sagt man, solle es mehr Geister pro Quadratmeile geben als in irgendeinem anderen Land. Als Junge las ich über die Ägyptischen Räume des Britischen Museums, wo Nachtwächter von unerklärlichen Temperaturstürzen, dem Gefühl, beobachtet zu werden, und von der schrecklichen Erscheinung einer bandagierten Mumie mit verzerrtem Gesicht berichteten, die auf den ohnmächtig dastehenden Wächter zuglitt.

Im Museum wird der Aberglaube der Eingeborenen durch den Volksglauben aller Länder ergänzt, deren Artefakte oder Vorfahren in Ausstellungsvitrinen zu sehen sind – oder ungesehen in den höhlenartigen Gewölben darunter aufbewahrt werden. Ägypter, die vor Urzeiten, wie es im Totenbuch heißt, „in die Behausung eingedrungen sind, die verborgen bleibt“, mischen sich unter angelsächsische Helme mit leeren Augen, assyrische Stiere mit Menschenköpfen, aztekische Dämonenmasken, kongolesische Waldfetische und Monolithen der Osterinsel.

Und plötzlich wird der ganze Westen von rastlosen Geistern heimgesucht.

Diese „schauen“ unablässig auf die Passanten, besonders wenn die Besucher längst gegangen sind und das Gebäude aus den 1820er Jahren seinem nächtlichen Lärm überlassen ist ­– während die nervösen Wachen allein zwischen den Toten und auf schlecht beleuchteten Korridoren patrouillieren. Der passend überirdisch benannte amerikanische Künstler Noah Angell trägt seit 2016 unheimliche Museumsgeschichten zusammen – und dieser Strom von Berichten macht keine Anstalten, jemals zu versiegen.

Die Berichte stammen in der Regel von weniger gebildetem Personal, aber irrationale Vorstellungen über „unruhige“ Artefakte handeln von Realitäten mit hohem Ansehen. Eine Ausstellung über das moderne Deutschland wurde von Lichtkugeln verhext – aber wahrscheinlich wurden die Kugeln gesehen, weil Briten heute solche „Ausstrahlung“ erwarten. Diese Lichter verschwanden mit der Ausstellung, aber es gibt eine tiefere Beunruhigung im Museum, ein aufrüttelndes Unbehagen darüber, daß bestimmte Gegenstände dort irgendwie „aus dem Takt“ sind. Dinge, die vor Jahrhunderten aus Kolonien, die heute eigenständige Staaten sind, gekauft, geplündert oder gerettet wurden. So fließen Volksmärchen in die Mode, urzeitlicher Aberglaube in die Politik und wieder zurück – und plötzlich wird der ganze Westen von rastlosen Geistern heimgesucht.