© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Gewinn an qualitätsgewichteten Lebensjahren
Gesundheit und Ökonomie: Schlußfolgerungen aus der Ifo-Helmholtz-Studie zur Eindämmung der Corona-Pandemie / Schwierige Optimierungsaufgaben
Dirk Meyer

Gibt es einen Konflikt zwischen Wirtschaft und Gesundheit? Die Antworten auf diese Frage kennzeichnen die derzeitige Lockerungsdebatte. Dabei geht es für jeden von uns um die persönliche Betroffenheit: Der 85jährige, rüstige, aber hochgefährdete Rentner mit einer Rentenerhöhung von 4,20 Prozent (West); die auf 100 Prozent Kurzarbeit befindliche Reisefachfrau (20 Jahre); die kurz vor der Pleite stehende Firmeninhaberin des Reisebüros; das berufstätige Ehepaar mit zwei Kindern im Kita-Alter. Eine Studie des Ifo-Instituts und des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) gehen dieser Frage aus der Vogelperspektive nach: Was ist der wirtschaftlich optimale Weg der Öffnung, der mit einer weiteren Eindämmung der Epidemie in Einklang zu bringen ist.

In gemeinsamer Arbeit zeigen Epidemiologen und Ökonomen die zusätzlichen Covid-19-Toten und die wirtschaftlichen Kosten bei jeweils unterschiedlichen Reproduktionszahlen (R-Wert) auf. Als wesentliche Bedingung ihrer Analyse setzen sie als Zielgröße 300 Neuinfektionen pro Tag. Nur in dieser Größenordnung können die 400 Gesundheitsämter mit ihren personellen Kapazitäten Kontaktpersonen identifizieren und die Quarantäne-Situation handhaben.

Am 20. April ermittelten die Autoren einen R-Wert von 0,627. Im Mittel steckten also drei mit Sars-CoV-2 Infizierte zwei weitere Person an, so daß die Zahl 300 in etwa 40 Tagen zu erreichen gewesen wäre. Hier scheint eine erhebliche Abweichung zu den Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) vorzuliegen, denn dies veröffentlichte zeitgleich einen Wert von 0,9 – dazu später. Derzeit kommen täglich 800 Neuinfizierte hinzu, und der R-Wert liegt ebenfalls bei etwa 0,9. Die Zielzahl wäre danach erst in etwa einem halben Jahr erreicht.

Es besteht folgender Zusammenhang: Will man die Zielzahl schneller erreichen, setzt dies einen geringeren R-Wert voraus, der nur unter relativ hohen Beschränkungen möglich wäre. Das Ergebnis wären geringere Todeszahlen bei hohen wirtschaftlichen Verlusten. Alternativ rechnen die Autoren bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes mit einer konstanten Reproduktion (R-Wert 1), der nach einer Prognose des Paul-Ehrlich-Instituts im Juli 2021 einsatzbereit sein soll. Dies ist zugleich der Zeithorizont der Untersuchung.

Abweichende und unsichere Daten

Aufbauend auf den epidemiologischen Szenarien werden bestimmte Shutdown-Zeiten errechnet, wobei die Intensität der Maßnahmen variiert. Die damit verbundenen wirtschaftlichen Ausfälle basieren auf den Ifo-Konjunkturumfragen bei Unternehmen. Bei einem höheren R-Wert muß der Shutdown länger durchgehalten werden, da das angestrebte Ziel von Neuinfektionen pro Tag langsamer erreicht wird. Allerdings können die Beschränkungen sofort gelockert werden, so daß die Wirtschaftsleistung auch während des Shutdown zunimmt. Entsprechend gilt bei niedrigeren R-Werten das Gegenteil.

Immer vor dem Hintergrund der Zielzahl 300 Neuinfizierte würde ein R-Wert von 0,75 den geringsten Verlust an Wirtschaftskraft mit 4,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bei etwa 10.000 Toten ermöglichen. Ein geringerer R-Wert würde aufgrund intensiverer Beschränkungen zu Verlusten führen und kaum positiv auf die Zahl der Todesfälle wirken. Ein höherer R-Wert würde infolge einer längeren Shutdown-Zeit starke wirtschaftliche Folgen bei einem erheblichen Anstieg der Toten ergeben. Im Ergebnis verlaufen die Kosten U-förmig mit einem Minimum bei einem R-Wert 0,75. Deshalb raten die Forscher zu leichten schrittweisen Lockerungen.

Wir wissen wenig, aber davon viel. Fachübergreifende Studien sind gerade in Zeiten hoher Unwissenheit von hohem Nutzen, zumal die Autoren an verschiedenen Stellen auf die Grenzen der Aussagefähigkeit hinweisen und „vor einer direkten und engen quantitativen Interpretation dieser Resultate“ abraten. Ein augenfälliges Problem sind abweichende und unsichere Daten.

So irritiert die R-Wert-Abweichung vom RKI (0,9 statt 0,627) zum Anfangszeitpunkt der Studie, denn gemäß RKI-Wert müßten die Maßnahmen eher angezogen werden. Zudem steht die Zielvorgabe mit 300 Neuinfektionen in Frage. Eine bessere Ausstattung der Gesundheitsämter, die Bereitstellung einer datenschutzgemäßen, dezentralen und freiwilligen Corona-App hätten große Wirkungen auf einen höheren optimalen R-Wert. Auch ist spätestens nach Boris Palmers Äußerung „Wir retten in Deutschland Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“ ein Denkverbot gefallen.

In der Medizinforschung ist der Begriff vom Gewinn an qualitätsgewichteten Lebensjahren ein durchaus handlungssteuernder Maßstab – warum nicht auch in der Corona-Diskussion? Schließlich ließe sich der Shutdown auf die hochgefährdeten Personen beschränken – zu Lasten deren Freiheiten.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

„Das gemeinsame Interesse von Gesundheit und Wirtschaft: Eine Szenarienrechnung zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ (Ifo-Schnelldienst 6/20:  ifo.de