© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Distanz zu Ladenhütern sieht anders aus
Bildung: Der „Zeit“-Autor Jan Roß befindet sich in ungetrübter Harmonie mit dem Zeitgeist
Wolfgang Müller

Jan Roß, seit 1998 Redakteur des Hamburger Wochenblatts Die Zeit, hat ein neues Buch geschrieben – ein Hohelied auf die im Zeichen von marktgerechtem Billigabitur und Bologna-Blitzstudium als vorgestrig geschmähte „Bildung“. Um seinen sympathischen, aber arg gedehnten Hymnus auf das „Paralleluniversum der Klassiker“ und die Wonnen des „tief im Bibliotheksholz hausenden Bücherwurms“ auf ein Zitat von wenigen Zeilen zu verkürzen, empfiehlt es sich, Wilhelm Dilthey (1833–1911) zu bemühen, den Berliner „Philosophen der Geisteswissenschaften“.  

Dieser wilhelminische Statthalter Wilhelm von Humboldts auf Erden pries den Gewinn an Lebensqualität, den geschichtlich fundierte Bildung vermittle, wie folgt: „Das historische Bewußtsein ermöglicht dem modernen Menschen die ganze Vergangenheit der Menschheit in sich gegenwärtig zu haben: über alle Schranken der eigenen Zeiten blickt er hinaus in die vergangenen Kulturen; deren Kraft nimmt er in sich auf und genießt ihren Zauber nach: ein großer Zuwachs von Glück entspringt ihm hieraus.“ 

Mit der Aussicht auf Genuß und Glück, die ihm als Akademiker-Kind, als früh auf die „Kulturnorm Antike“ fixiertem Absolventen des Humanistischen Gymnasiums und als Studenten der Altertumswissenschaften im Übermaß zuteil wurden, will auch Roß neue Lust auf Bildung wecken. Doch soll sie sich nicht an dem eher ästhetisch-kontemplativen Bildungsbegriff  Diltheys entzünden. Vielmehr eignet sich bei ihm „der gebildete Mensch“ das kulturelle Erbe an, nicht um die Gegenwart zu fliehen, sondern um mit dem Kontrastmittel Vergangenheit auf kritische Distanz zu ihr zu gehen. Bildung helfe, „Gesinnungsgewohnheiten“ abzulegen, ermutige, dem „Diktat von Trends, Mehrheiten und Konsensen“ zu widersprechen.

Auf der Linie, die von Friedrich Schiller über Wilhelm von Humboldt schnurgerade zu Karl Marx führt, stand das Bildungsideal in der Tat stets quer zur Gegenwartsmisere der kapitalistisch organisierten Moderne, die den meisten Menschen nur eine bildungsferne, fragmentarische, „entfremdete“ Existenz statt des wahrhaft humanen „Selbstseins“ jenseits der „Tretmühle banausischer Dienstbarkeit“ gewährte (Günther Buck, „Rückwege aus der Entfremdung“, 1982).

Roß befindet sich also in keiner schlechten Gesellschaft, wenn er das revolutionäre Potential von Bildung beschwört. Aber gemessen daran ist gerade er nicht klüger geworden, denn nirgends in diesem Buch befreit ihn das nun seit 50 Jahren „mit Appetit, ja Hunger“ (Thomas Mann) verschlungene Bildungsgut von den einschnürenden Fesseln jener linksgrünen Konventionen, die zu pflegen zur Kernkompetenz eines Zeit-Redakteurs zählt. Daß alles für die Katz war, daß Bildung ihm das „volle Verständnis der Wirklichkeit“ nicht er-,

sondern verschloß, demonstriert der studierte Altphilologe ausgerechnet auf seiner Domäne, der Antike. 

Thukydides, der Historiker des Peloponnesischen Krieges, sei der „ultimative Lehrer der Realpolitik“. Wer wissen wolle, wie „Macht pur“ auch heute funktioniert, müsse sich diesem ewig aktuellen „Wahrheitssucher“ anvertrauen. Dessen Weltgeschichte auf Wesentliches reduzierende Lehre aus dem Konkurrenzkampf zwischen Athen und Sparta lautet: Trifft eine aufsteigende auf eine etablierte Macht, ist Krieg unausweichlich. Übertragen auf die Mächtekonstellation im Zeitalter des Imperialismus, folgert Roß daraus messerscharf, was Die Zeit als Sprachrohr Fritz Fischers und dessen These vom „Griff nach der Weltmacht“ (1961) von altersher ausschreit: die Hauptschuld des mit seiner Flottenrüstung England provozierenden Deutschen Reiches am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Bildungsbasierte Distanz zu den Ladenhütern bundesdeutscher Geschichtspolitik sieht anders aus. 

Eine Blütenlese typischer Platitüden

Auch sonst werden die Geßlerhüte des Zeitgeistes im Minutentakt gegrüßt. Wer Virgina Woolf lese, lasse sich auf den „beweglichen Charakter von Geschlechtsidentitäten (‘gender’)“ ein, lerne, daß „Trans- und Intersexualität kein Tabu“ seien. Wer Alexis de Tocquevilles Demokratiekritik politisch korrekt verstehe, mißtraue nicht etwa dem „Konsenszwang“ und fürchte die „Freiheitsbedrohung“ durch die herrschende „Mitte“, sondern empöre sich über „Aggressionsstürme im Netz“, wie sie der linke und rechte Rand entfache. Wer glaube, kreative Bildungsmacht sei ein Privileg des Abendlandes, täusche sich. Sie sei universal und „überall zu Hause“, wie Roß ölig behauptet, um nicht als „islamophob“ zu gelten. Wohl wissend, daß in der kulturell sterilen Welt des Islam Bildung, weil sie die Unterwerfung unter Allahs Willen sabotiert, keineswegs „zu Hause“ ist. 

So gerät die „Anleitung“ zur Bildung zur Blütenlese Zeit-typischer Platitüden. Von der Obama-Manie (wer diesen Heiligen nicht verehre, offenbare „Halbbildung“) bis zur kuriosen Anbetung des neoliberalen Erzvaters John Stuart Mill (1806–1873), der die verheerenden sozialen Wunden, die der Manchesterkapitalismus schlug, mit Heilsarmee-Methoden kurieren wollte. Als I-Punkt zelebriert Roß schließlich noch ein genuin „antifaschistisches“ Bildungserlebnis. Das gönne er sich, wenn er „nichts Besseres zu tun“ habe. Dann ziehe er den schon ziemlich zerlesenen Band mit den Kriegsreden Winston Churchills aus dem Regal. Die erfüllten ihn jedesmal mit dem Gefühl von Glück und Stolz. 

Jan Roß: Bildung. Eine Anleitung. Rowohlt-Berlin, Berlin 2020, gebunden, 319 Seiten, 22 Euro