© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Aus der Sicht der Sieger
In Berlin-Karlshorst wird an die Kapitulation der Wehrmacht erinnert
Paul Leonhard

Ein Bronzerelief zeigt einen an einer kleinen ewigen Flamme knienden schnurbärtigen Sowjetsoldaten. Die Maschinenpistoile mit dem Trommelmagazin hält er in der rechten Hand, sein Helm ruht auf dem linken Knie. An einer Wand steht: „Unsterblich ist die Heldentat des sowjetischen Menschen, des Soldaten und des Werktätigen im Großen Vaterländischen Krieg. Wir verneigen uns vor denen, die für die Ehre und Freiheit des sozialistischen Vaterlandes gefallen sind, die ihr Leben für die Rettung der Welt vor der faschistischen Pest gaben. Mit Hochachtung und Dankbarkeit erinnern wir uns der Kämpfer, Patrioten und Antifaschisten der anderen Länder – unserer Verbündeten in dieser Befreiungsschlacht.“ 

Das Pathos dieser Worte stimmt auf die Ausstellung im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst ein, das von 1967 bis 1995 einen anderen, viel zutreffenderen Namen trug: Kapitulationsmuseum.

Stalin fühlte sich übergangen

Im Speisesaal des ehemaligen Offizierskasinos einer Pionierschule, die im April 1945 der 5. Stoßarmee der 1. Weißrussischen Front als Hauptquartier dient, wird in der Nacht zum 9. Mai die bereits zwei Tage zuvor in Reims von Generaloberst Alfred Jodl unterzeichnete Kapitulation der deutschen Streitkräfte ratifiziert, diesmal auch in einer russischsprachigen Fassung.

Die Wiederholung der Zeremonie in der gerade erst eroberten Reichshauptstadt erfolgte, weil Josef Stalin sich übergangen fühlte. Vor allem soll der Sieger von Berlin, Marschall Georgi Konstantinowitsch Schukow, unterzeichnen und nicht wie in Reims lediglich ein russischer Generalleutnant. Erst nach diesem Akt teilt die sowjetische Propaganda den Sieg über NS-Deutschland der eigenen Bevölkerung mit.

Fünf Stufen sind es hinauf in das Offizierskasino. Wer nicht selbst vor Ort weilt, kann diese Schritte auch am heimischen Computer tun. Da lange unklar ist, ob das Museum zum 75. Jahrestag der Kapitulation die Sonderschau „Von Casablanca nach Karlshorst“ würde öffnen dürfen, bietet das Haus einen virtuellen Rundgang an, der kaum Wünsche offen läßt und zudem den Vorteil hat, daß der Besucher – ohne die Ausstellung zu verlassen – bei offen bleibenden Fragen sofort im Internet recherchieren kann.

Auch wenn die Ausstellung von deutschen Historikern erstellt wurde, beschreibt sie das Geschehen aus der Sicht der Sieger. Der Schwerpunkt liegt auf den letzten zwei Jahren des Zweiten Weltkrieges und dabei wiederum auf den sogenannten Endphaseverbrechen, die Hunderttausende Opfer erforderten. Gemeint sind damit nationalsozialistische Verbrechen 1945, die Gewalt gegen Häftlinge in Zwangsarbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern, gegen Kriegsgefangene und gegen Teile der sowjetischen Zivilbevölkerung, die Todesmärsche, aber auch die Morde des NS-Regimes an deutschen Zivilisten und Soldaten während der letzten Kämpfe.

Da die Erzielung der bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands nicht geradlinig verlaufen sei, führe man die Ausstellungsbesucher „zunächst um zwei Ecken“, bevor sie den Kapitulationssaal betreten, erläutern die Kuratoren ihre Dramaturgie. 

Der Kapitulationssaal ist nach historischen Fotos nachgestaltet. An der Wand stehen unter den Fahnen der Allierten Tische. Hier saßen einst Luftmarschall Arthur Tedder für die Westalliierten und der Sowjetmarschall Schukow. Filmaufnahmen zeigen in Endlosschleife den Vorgang der Kapitulation: Wie Wilhelm Keitel als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht seine Unterschrift setzt, während der noch am 30. April von Hitler zum Oberbefehlshaber des Heeres ernannte Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner den mündlichen Befehl – „was möglich nach Westen zurück und notfalls durch Sowjets sich durchzuschlagen“ – von Regierungschef Dönitz umsetzt. Jede Stunde, die die Kapitulation hinausgezögert werden kann, rettet Zehntausende Soldaten und Zivilisten vor sowjetischer Zwangsarbeit.

Davon erzählt die Ausstellung nichts, auch nicht, daß es zu Verzögerungen kommt, weil die Alliierten den Inhalt der geforderten Kapitulationserklärung in Jalta nicht klären konnten. In Reims hat Eisenhower letztlich improvisiert und festhalten lassen, daß an Stelle der von den Deutschen unterzeichneten Urkunde „andere allgemeine Kapitulationsbedingungen“ treten könnten. 

Rechtlich gilt die Kapitulation von Reims. Wie kompliziert es in Wirklichkeit war, zeigt eine Formulierung, nach der sich die Kapitulation auf alle „unter deutschem Befehl stehenden oder von Deutschland beherrschten Streitkräfte“ bezog. Denn noch kämpften auch slowakische, ungarische, russische und ukrainische Einheiten an der Seite der Wehrmacht.

Unter dem Stichwort „Suizide“ heißt es immerhin, daß viele der Besiegten nicht nur den Freitod wählten, um sich alliierter Gerichtsbarkeit zu entziehen, sondern auch „Verzweifeln angesichts der Niederlage, Angst vor Vergeltung und tatsächlich erlebter Gewalt“ Motive sein konnten. Sogar die Ausplünderung der Bevölkerung und der Raub der Kunstschätze wird erwähnt: „Alliierte Soldaten (…) nehmen wertvolle Gegenstände als Beutestücke an sich.“ Daneben gibt es Schautafeln mit den Schlagworten Siegerposen, Kapitulation, Weiße Fahnen. Gezeigt werden Fotos, Dokumente, Plakate und Karikaturen, wie die eines  Hitlers, dessen Gesicht von drei Seiten von den Fäusten der Alliierten getroffen wird.

Welche Bedeutung der 8. Mai 1945 für einen persönlich hat, kann der Besucher im Kapitulationssaal entscheiden, indem er in eine der fünf Säulen aus Plexiglas mit den Aufschriften Befreiung, Niederlage, Sieg, Neuanfang, bedeutungslos einen Anstecker wirft. Beim virtuellen Rundgang sind alle randvoll gefüllt. 

Ausstellung „Von Casablanca nach Karlshorst“ im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, Zwieseler Straße 4. Tel.: 030 / 501 508-10

 www.museum-karlshorst.de