© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Leise Töne wirken nicht
Was nicht unterhält, verdient keine Beachtung: Warum die Kraft des Schweigens eine vernachlässigte Tugend ist
Eberhard Straub

Zur Legitimation des Parlamentarismus gehört die Diskussion. Die liberalen Bürger im 19. Jahrhundert glaubten, daß sich im geduldigen Gespräch die Stimme der Vernunft durchsetzen würde und die im Irrtum Befangenen zur Einsicht gebracht werden könnten. Rede und Gegenrede setzten Spielregeln und Kenntnisse voraus, vor allem gegenseitigen Respekt.

Selbstverständlich erwarteten liberale Bildungsbürger, meist Akademiker, als geistige Führer anerkannt zu werden, weil vertraut mit dem allgemeinen Wohl und dem sich immer mehr spezialisierenden und überall intervenierenden Gesetzgebungsstaat. Aufgrund rapider Demokratisierung und des damit verbundenen Wandels der Öffentlichkeit verloren solche Vorstellungen ihre Überzeugungskraft. Außerdem war das Parlament immer nur ein öffentliches Forum neben anderen Schauplätzen bei einer Fülle von Einrichtungen, die am ewigen Gespräch der mündigen Bürger untereinander teilnehmen sollten und wollten. 

Seit der Antike galt das Staunen und Schweigen als der Weg zum Tempel der Weisheit. Griechische und römische Philosophen und Historiker, vertraut mit den aufgeregten Spätformen der attischen Demokratie und der römischen Republik, dem Parteiengezänk und den Launen des leicht zu täuschenden und enttäuschten Volkes, machten sich keine Illusionen über Volksvertretungen, Volksparteien und Volksreden. Der Kaiser Marc Aurel war von früher Jugend an dazu erzogen, weder für die Grünen noch für die Blauen Partei zu nehmen. Ihm wurde nahegelegt, sich mit der Philosophie zu befreunden und an seiner Charakterbildung zu arbeiten, statt über leere Theorien zu reden oder in auffälliger Weise den Büßer und Menschenfreund zu spielen. Er gewöhnte sich an eine freie Denkungsart, an Besonnenheit und Gleichmut, an Geduld mit den Unwissenden und verstand es, sich in alle Menschen mit ihren Eigenheiten zu schicken.

Jeder darf sich wichtig nehmen

Er wandte viel Sorgfalt auf die Pflege seines Inneren, ohne darüber seine Herrscherpflichten zu versäumen, die er großartig während der jahrelang im Römischen Reich wütenden Pest bestätigte. Marc Aurel redete wenig, kümmerte sich nicht um Transparenz, beschäftigte keinen Pressesprecher, verplauderte sich nicht mit Journalisten und ausdrucksfrohen Moderatoren, folgte keinen Experten und hielt sich jahrelang fern von der dem Lebensernst entrückten Hauptstadt mit ihrer eitlen und ruhelosen Geschäftigkeit.

Der Nachruhm dieses liebenswürdigen Kaisers, klugen Staatsmannes und fähigen Offiziers erhielt sich ungebrochen, solange noch dessen „Selbstbetrachtungen“ aufmerksam gelesen wurden und Reden als Silber oder gar Blech bewertet, die Kraft des Schweigens hingegen bewundert wurde. Deutsche achteten deshalb noch im alten Feldmarschall Helmuth von Moltke nicht nur den genialen Strategen, sie hielten ihn, den großen Schweiger, ganz im antiken Sinne für ihren größten Philosophen, der Denken und Handeln eindrucksvoll miteinander versöhnte. 

Wer heute schweigt, erregt sofort  den Verdacht, einer Herausforderung gar nicht gewachsen zu sein oder moralisch zu versagen. Bei allen möglichen, rasch wechselnden Anlässen wird gefordert: keiner darf schweigen, jeder muß hinschauen und darf nicht wegsehen.  Wer sich vom Lärm der aufgeregten Zeitgenossen belästigt fühlt und sich auf den Weg nach innen begibt, flüchte aus der Verantwortung und mache sich schuldig, wie ihm vorgeworfen wird.

Eine diffuse Öffentlichkeit untersagt jeden Rückzug in die Privatheit, in das eigene Ermessen, weil unter Umständen alles von öffentlichem Interesse sein kann. Keiner, der unbescholten lebt, habe etwas zu verbergen. Er erweckt Mißtrauen, sollte er aus seiner sexuellen Orientierung, seinen politischen Neigungen oder kulturellen Vorbehalten ein Geheimnis machen. Es gehe darum, Farbe zu bekennen, Haltung zu zeigen und sich einzureihen in den Chor der Anständigen, der dauernd aufgerufen ist, zu warnen, anzuklagen, anzuprangern, damit Lügner und Leugner als solche bloßgestellt und nicht weiter als soziale Schädlinge ihr Unwesen treiben können.

Das Parlament ist gar nicht mehr eine herausgehobene Bühne, im besten Sinne eine öffentliche Anstalt, in der über das gesprochen und gestritten wird, was alle angeht. Parteien und Abgeordnete sind abhängig von Stimmungen, die durch Tonverstärker unüberhörbar werden und damit Rücksicht verdienen. Jeder kann seine Meinung veröffentlichen, darf sich wichtig nehmen und für das werben, was ihm als hilfreich und notwendig erscheint. Eine Übereinkunft über gute Sitten und verbindlichen Stil gibt es nicht mehr.

Leise Töne wirken nicht, sie werden überhört im scharfen Wettbewerb der Weltbildproduzenten. Deren Bilder treten an die Stelle der Wirklichkeit. Wie jeder sehen auch sie nur Teile einer möglichen Wahrheit, die sie entsprechend ihrer Interessen oder ihrer politischen Freunde präparieren, vor allem dramatisieren. Darüber berichtete schon 1922 Walter Lippmann, der illusionslose Analytiker ausufernder öffentlicher Meinungen. In der arbeitsteiligen, verwalteten Welt mit ihrer unvermeidlichen Eintönigkeit bedarf es schon greller Effekte, um überhaupt Aufmerksamkeit für ein Thema wecken zu können.

Es geht immer um Gut und Böse

Alle Sachverhalte müssen deshalb „vermenschlicht“ werden. Geschichten um Personen mit ihren strahlenden Tugenden oder skandalösen Unzulänglichkeiten suggerieren, daß selbst komplizierte Vorgänge allgemein verständlich werden und einen anekdotischen Reiz gewinnen, der unterhält. Was nicht unterhält, verdient keine Beachtung. Also muß alles in Unterhaltung aufgelöst werden. Meinungen kann jeder haben. Die Kunst besteht darin, sie so vorzutragen, daß sie schockieren, aufregen, empören und jeden berechtigen mitzureden, weil er als Wächter der öffentlichen Moral nicht schuldig werden darf, unaufmerksam zu sein und gefährliche Parolen überhört zu haben. Es geht immer um Gut und Böse, um ein großes „Ja!“ und ein entschiedenes „Nein!“ Laute Eindeutigkeit soll für Meinungsführerschaft sorgen, um das Ansehen von Politikern, Wissenschaftlern, Beratern, Öffentlichkeitsarbeitern und Prominenten aller Art vor Widerspruch zu sichern, oder vorerst noch unbekannte Sinnstifter prominent zu machen. 

Die Meinungsfreiheit ist die Voraussetzung, prominent zu werden. Jedem schon Prominenten öffnet sie viele Gelegenheiten, lästige Konkurrenten zu beschädigen oder verdienstvolle Mitstreiter ins rechte Licht zu rücken und deren Prestige zu erhöhen. Nicht Lüge und Wahrheit liegen im Wettstreit miteinander, sondern Sieg mit allen Mitteln und Niederlage um jeden Preis. Ja, was Wahrheit oder Lüge ist, das kann ganz unerheblich sein, weil der Erfolg darüber entscheidet, was nützlich und brauchbar war. Dieser Erfolg ist der Ruhm des kleinen und kleinlichen Mannes. Effiziente Lügen sind allemal nutzlosen Wahrheiten vorzuziehen. Die Helden in dieser weitverzweigten Interessengemeinschaft von Weltbildfabrikanten sind die von dem Publizisten Walter Lippmann – einem ernsten Liberalen – tief verachteten muckrakers, die Unrat schnüffeln, die enthüllen oder entlarven und denjenigen  demaskieren, der aus dem öffentlichen Leben eliminiert werden muß.

Unsere Verhältnisse gleichen der späten attischen Demokratie, in der Denunziation bürgerliche Pflicht war, und der späten römischen Republik voller bürgerlicher Unruhen, als jeder politische Gegner, nur weil er anders dachte, geächtet und verleumdet wurde. Es ging nicht darum, gemeinsam die möglichst helle, erleuchtende Vernunft im Dialog zu erkennen, sondern mit widrigem Geschwätz, das Marcus Tullius Cicero verabscheute, Parteigänger anderer Überzeugungen oder Interpretationen geistig und sozial fertigzumachen.

Das Getöse, die Lautstärke, argumentative Grobheit, dauernde Alarmbereitschaft führen mittlerweile wie in der Antike zu einer erstaunlichen Spracharmut und zu Rücksichtslosigkeiten gegenüber der Grammatik, die gar nicht mehr wahrgenommen werden. Ein Experte, der sich verworren ausdrückt, bestätigt vielmehr – zutiefst mitmenschlich – wie seine beunruhigenden und sensationellen Erkenntnisse ihm die Sprache verschlagen. 

Wer zögert und überlegt, erregt Verdacht

Dröhnende Schlagworte – das Leben, die Werte, der Mensch, die Würde, die Demokratie, Europa – bringen sofort mit aggressiver Wucht jeden Widerspruch zum Schweigen. Das größte Donnerwort ist „die Wissenschaft“, vor seiner niederschmetternden Majestät sinkt jeder von ihr getroffen zu Boden wie einst vor Gott, der das Wort ist und sich im Wort offenbart. Wie überall im Wettbewerb dürfen ein Experte, ein Orientierungshelfer oder ein Politiker keine Schlafmütze sein. Er muß rasch, entschlossen, ja stürmisch um sich schlagen und tösend, wetternd und ununterbrochen im Volldampf voraus den Eindruck erwecken, allen anderen überlegen zu sein als kompetenter Gestalter der Zukunft. Wer zögert, nachdenkt, überlegt, erregt den Verdacht, unter außergewöhnlichen Umständen zu versagen und nicht fähig zu sein, sofort das Richtige zu tun. 

Die von spontanem Rat und Befehl betroffenen Opfer improvisierten Durchgreifens sollen sich freilich dankbar und erleichtert verhalten gemäß der rundum erfüllten populären, altbairischen Erwartung: Hier rührt si’ nix, hier muß was g’schehen, und zwar jetzt mit verbalem Krach und jede leise Mahnung niederschmetternder Kraft. Da bleibt für ruhiges Abwägen wenig Zeit und keine Stille, vielleicht Goethes Empfehlung zu beherzigen, die er dem Journalisten Johann Friedrich Rochlitz am 23. November 1829 gab: „Handle besonnen, ist die praktische Seite von erkenne dich selbst. Beides darf weder als Gesetz noch als Forderung betrachtet werden; es ist aufgestellt wie das Schwarze der Scheibe, das man immer auf dem Korn haben muß, wenn man es auch nicht immer trifft.“