© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Deutschland, die ethnisch fragmentierte Republik
Es wird noch bunter
Peter Kuntze

Die Corona-Pandemie hat es an den Tag gebracht: Deutschlands Gesundheitssystem, so behauptete Jens Spahn, sei gut aufgestellt und auf alle Eventualitäten vorbereitet. In Wirklichkeit gelang es dem Gesundheitsminister noch nicht einmal in drei Monaten, genügend Atemschutzmasken zu organisieren. Daß in Kliniken und Altenheimen Zehntausende Krankenschwestern und Pfleger fehlen, war wiederum längst bekannt.

Bereits im Sommer letzten Jahres hatte sich Spahn deshalb auf Anwerbetour ins Ausland begeben. Er tat dies im Vorgriff auf ein Gesetzesvorhaben, das in den Covid-19-Zeiten jedoch bald aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit verschwand. Darin räumte eine bundesdeutsche Regierung erstmals offiziell ein, was seit Jahrzehnten uneingestanden der Fall ist: In dem am 22. Januar vom Kabinett beschlossenen „Nationalen Aktionsplan Integration“ heißt es, die Regierung habe „einen Paradigmenwechsel vollzogen und  sich dazu bekannt, daß Deutschland auf die Einwanderung von ausländischen Fachkräften angewiesen ist“.

Welchem Wandlungsprozeß die polit-medialen Eliten das gesamte Land seit langem unterworfen haben, machte der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz am Beispiel der DFB-Elf deutlich: „‘Die Mannschaft’ ist das, was übrigbleibt, wenn man von der deutschen Nationalmannschaft ‘deutsch’ und ‘national’ abzieht.“ Diese Entnationalisierung ist das Resultat einer Politik, die, zum Entsetzen gerade auch vieler ehemaliger DDR-Bürger, aus Deutschland jenseits des individuellen Rechts auf Asyl längst ein Einwanderungsland gemacht hat. Weder das neuartige Corona­virus noch die Klimahysterie, weder die Globalisierung noch die Vermögensverteilung sind es, die den vielbeschworenen Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden – es sind die Konsequenzen der als „Flüchtlingskrise“ kaschierten Zuwanderung, die 2015 ihren ersten Höhepunkt erreichte und seit dieser Zeit als unsichtbarer Elefant im diskursiven Raum steht.

Statt das Land, wie lautstark propagiert, zu bereichern, wird es von kulturfremden Migranten in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnraum, Gesundheit und Sicherheit belastet und ideell wie materiell in zunehmendem Maße geschädigt. Wer sich dieser demokratisch durch nichts legitimierten Veränderung widersetzt, wird in dem erstmals im Oktober 2000 ausgerufenen und mittlerweile alle Kapillaren der Gesellschaft erfassenden „Kampf gegen Rechts“ zum Opfer einer haßerfüllten Hetze – einer Kampagne, die die Richtigkeit der Carl Schmittschen Freund-Feind-Dichotomie als Inbegriff des Politischen jeden Tag aufs neue bestätigt. In dieser Treibjagd auf alles Nationalkonservative offenbart sich jene „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, mit der Wilhelm Heitmeyer als ihr Namensgeber ursprünglich Xeno-, Islamo- und Homophobie etikettierte.

Inzwischen hat in Deutschland jeder vierte Einwohner ausländische Wurzeln: 2018 waren es 20,8 Millionen der insgesamt 81,6 Millionen Bürger, das entspricht einem Anteil von 25,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Dieser Anteil wird sich noch erhöhen.

Der Wandlungsprozeß, der dazu geführt hat, daß inzwischen in den meisten Grundschulklassen autochthone Kinder in der Minderheit sind und in einer Großstadt wie Frankfurt am Main Ausländer (mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit) die Majorität der Einwohner stellen, begann 1961 in Westdeutschland mit der Anwerbung türkischer Gastarbeiter aus Anatolien. Ihre Aufenthaltserlaubnis war zunächst auf zwei Jahre beschränkt, dann sollten sie in ihr Land zurückkehren und durch neue Arbeiter ersetzt werden. Ein Familiennachzug war nicht vorgesehen.

1964 wurde die Rotation außer Kraft gesetzt und das Verbot des Familiennachzugs aufgehoben. Als die Bundesregierung 1973, kurz nach Beginn der Ölkrise, einen Anwerbestopp verfügte, befanden sich rund 600.000 Türken in Deutschland; die meisten von ihnen lehnten die Rückkehr in ihre Heimat ab und blieben hier. Heute sind es in Gesamtdeutschland mehr als drei Millionen Türken; insgesamt leben nahezu 4,5 Millionen Muslime hier.

Als Helmut Schmidt 2012 im Alter von 93 Jahren Abschied von China nahm, machte er einen Zwischenstopp in Singapur, wo er seinen alten Freund Lee Kuan Yew traf, der einst den Stadtstaat gegründet hatte. Eines ihrer wichtigsten Gesprächsthemen war die globale Migration. Lee prophezeite: „Die Vermischung der Völker wird in den nächsten Jahrzehnten eines der größten Probleme sein. In Europa wird sie bestimmt durch den Einwanderungsdruck aus Afrika und zum Teil aus der arabischen Welt. Diese Menschen suchen ein besseres Leben, aber achtet man sich auch gegenseitig?“ Und, an Helmut Schmidt gewandt, fragte er: „Sind Sie bereit, die Türken als Deutsche anzuerkennen?“

Schmidt: „Nein, ich bin auch gegen das Schlagwort des Multikulturalismus. Statt dessen plädiere ich dafür, die rund drei Millionen Türken rechtlich voll in Deutschland zu integrieren.“ Das werde jedoch mehr als eine volle Generation dauern, denn die Kultur der türkischen Nation und ihre Lebensgewohnheiten unterschieden sich stark von den deutschen. Deshalb, entgegnete Lee, sei die Vermischung der Völker ein Problem für die Welt, denn Auswanderung werde weiter stattfinden, aber an der Anerkennung der Einwanderer werde es fehlen. Schmidts Resümee: „Es ist ein Weg in unvermeidliche Kriege“ (in: Helmut Schmidt: „Ein letzter Besuch – Begegnungen mit der Weltmacht China“, München 2013).

Inzwischen hat in Deutschland jeder vierte Einwohner ausländische Wurzeln: Im Jahr 2018 waren es 20,8 Millionen der insgesamt 81,6 Millionen Einwohner, das entspricht einem Anteil von 25,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Mittelfristig wird sich dieser Anteil weiter erhöhen, denn laut Statistischem Bundesamt hatten 2018 bereits 40,6 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund. Da die Bundesregierung Ende 2018 den Uno-Migrationspakt unterzeichnet hat (JF 47/18), wird sich die Zahl der Einwanderer im Rahmen des Umsiedlungsprogramms („Resettlement“) weiter erhöhen.

Folgt man der Wirtschaftshistorikerin Heike Knortz, hätte diese Entwicklung schon zu Beginn vermieden werden können – eine Entwicklung, die das Land in zwei unversöhnliche Lager gespalten hat. Aufgrund intensiver Quellenstudien im Auswärtigen Amt kommt Knortz zu dem Schluß, die Anwerbung von Gastarbeitern sei damals nicht von der Industrie ausgegangen, vielmehr hätten Italien, Griechenland, Spanien, Portugal und später auch die Türkei wegen wachsender Arbeitslosigkeit im eigenen Land das Bonner Außenministerium zu Anwerbeabkommen gedrängt. Dem habe man aus politischen Gründen zugestimmt – zum Schaden Deutschlands, denn durch die massenhafte Aufnahme billiger ungelernter Arbeitskräfte seien veraltete Komplexe wie der Kohlebergbau und die Textilindustrie künstlich am Leben erhalten worden. Man darf gespannt sein, welche Folgen das neue „Fachkräfte-Einwanderungsgesetz“ haben wird, das – flankiert vom „Nationalen Aktionsplan Integration“ – am 1. März in Kraft trat.

Waren, ob gewollt oder ungewollt, die Anwerbeabkommen – zumal jenes mit der Türkei – der erste Schritt hin zur Multikulturalisierung und damit zum Einwanderungsland, so war der zweite Angela Merkels Entscheidung, 2015 Zehntausende Flüchtlinge ins Land zu winken. Hier wurde Hans-Jürgen Papier, dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, zufolge das geltende Recht unterlaufen, weil zu den Schutzbedürfnissen des Bürgers auch der Schutz durch Grenzen gehöre. Selbst im nachhinein sei keine gesetzliche Ermächtigung eingeholt worden. In seinem Buch „Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird“ (München 2019) schildert Papier die Folgen einer planlosen Einwanderung: Deutschland sei zu einem „Gang-Land“ verkommen, in den Großstädten entstünden „Parallelwelten“ mit eigenen Gesetzen, auch hierzulande existierten wie in Paris, London und Rom „No-go-Areas“.

Hergebrachte Begriffe haben einen Bedeutungswandel im Sinne des Universalismus erfahren: „Weltoffen“ zu sein hieß bislang, Menschen fremder Kulturen daheim und auf Reisen aufgeschlossen zu begegnen, nicht aber, sie einzuladen, sich hier dauerhaft anzusiedeln.

Fehlte zur Umwandlung der Bundesrepublik in ein Einwanderungsland auch jede gesetzliche Legitimierung, so gibt es doch eine grundlegende Neuinterpretation der Verfassung. Auch auf semantischem Gebiet haben hergebrachte Begriffe einen Bedeutungswandel im Sinne des Universalismus und der Eine-Welt-Ideologie erfahren: „Weltoffen“ zu sein hieß bislang, Menschen fremder Kulturen daheim und auf Reisen aufgeschlossen zu begegnen, nicht aber, sie einzuladen, sich hier dauerhaft anzusiedeln. In der Stadt Potsdam zum Beispiel leben gegenwärtig 15.900 Ausländer aus mehr als 140 Ländern. Der Migranten-Beirat der Stadt setzt sich aus elf Mitgliedern aus elf Staaten zusammen – aus der Slowakei, Italien, Kasachstan, Kirgistan, Mexiko, Rumänien, Rußland, Syrien, Ungarn, aus den USA und Deutschland. Ziel des Beirats sind Integration und Teilhabe unter der Devise: „Wir alle sind Potsdamer. Weg von der Toleranz – hin zur Akzeptanz!“

Johannes Rau, der 1999 als achter Bundespräsident vereidigt wurde, wies in seiner Antrittsrede auf Artikel 1 des Grundgesetzes hin. Dort heiße es, die Würde des Menschen sei unantastbar. „Des Menschen“, betonte Rau, „nicht des Deutschen.“ Damit spielte er auf fremdenfeindliche Vorfälle an, doch die vielzitierten Väter und Mütter der Verfassung hatten sich zu den Menschenrechten in der Annahme bekannt, dieser unveräußerlichen Rechte werde das Volk der Deutschen im eigenen Nationalstaat teilhaftig werden, nicht jedoch die halbe Welt. Genau darauf zielt mittlerweile aber das Bundesverfassungsgericht (BVerfG).

In ihrem NPD-Urteil vom 17. Januar 2017 gehen die Karlsruher Richter nicht mehr vom deutschen Volk als dem Souverän der Staatsmacht aus, sondern von den „Freien und Gleichen“ – „unabhängig von der ethnischen Herkunft“. Der ethnische Volksbegriff sei unvereinbar mit der Menschenwürde des Individuums als dem obersten Grundsatz der Verfassung, da er die unbedingte Unterordnung der Person unter ein Kollektiv verlange. Mit dieser Interpretation setzt das BVerfG den im 18. Jahrhundert auf Johann Gottfried Herder zurückgehenden Volksbegriff mit der völkischen Rassenideologie der Nationalsozialisten gleich. Im Gegensatz zum NS-System fordern die Verfechter des dem Grundgesetz ursprünglich zugrundeliegenden Volksbegriffs jedoch weder ethnische Reinheit, noch stufen sie Völker als höher- oder minderwertig ein; sie verlangen auch nicht Abschottung statt Weltoffenheit, sondern angesichts drohender Überfremdung ein unerläßliches Minimum an ethnisch-kultureller Homogenität.

Wenn die polit-medialen Eliten jetzt landauf, landab die zunehmende Verrohung in dieser existentiellen Auseinandersetzung beklagen, sollten sie sich daran erinnern, mit welch infamem Dreiklang aus Hetze, Haß und Häme sie 2010 über Thilo Sarrazin herfielen, der als erster die Dinge beim Namen genannt hatte, und mit welchen verbalen Kübeln sie die Pegidisten übergossen, die 2014 zu ihren Dresdner Protestmärschen antraten. Daher gilt auch hier: „Wie’s in den Wald hineinschallt, schallt’s wieder heraus.“






Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Bankrott des Sozialismus („Vom Osten lernen“, JF 41/19). 

Foto: „Vorbeiziehende Landschaft“ (Iwan Wassiljewitsch Kljun, 1914/15, Öl auf Leinwand): Verfechter des dem Grundgesetz ursprünglich zugrundeliegenden Volksbegriffs verlangen angesichts größer werdender Verlust- und Fremdheitsgefühle im eigenen Land ein Minimum an ethnisch-kultureller Homogenität