© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Mit Kriegsbeil und Ölzweig in den Händen
Geschichte ohne PC-Korsett: Deutsche Besatzungspolitik in Kongreßpolen während des Ersten Weltkriegs
Oliver Busch

Im Winter 1915 war es Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg gelungen, die zaristischen Invasionsarmeen endgültig aus Ostpreußen zu vertreiben. Und einmal in Schwung, zogen deutsche Truppen im August 1915 in Warschau ein, Hauptstadt eines Landes, dessen Torso hundert Jahre zuvor, auf dem Wiener Kongreß, zur westlichsten Provinz Rußlands degradiert worden war. In diesem „Kongreßpolen“, das die Russen nun vollständig räumten, errichteten die Sieger eine militärische mit zivilen Verwaltungsstrukturen kombinierende Besatzungsherrschaft, das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges aufrechterhaltene Generalgouvernement (GG) Warschau, an deren Spitze der General Hans Hartwig von Beseler stand.  

Doch anders als das 1939 etablierte nationalsozialistische Generalgouvernement unter dem Regiment des in Krakau residierenden Juden- und „Polenschlächters“ Hans Frank kennt von Beselers GG Warschau kaum jemand außerhalb des exklusiven Kreises von Osteuropa-Fachleuten. Für den polnischen Historiker Arkadiusz Stempin (Krakau) war das ein Glücksfall, wie er auf dem umgewühlten Forschungsacker der Zeitgeschichte nicht alle Tage vorkommt. Stempin hat die Chance, Neuland zu vermessen, genutzt, um mit einer bienenfleißig alle deutsch-polnischen Archivregister ziehenden Monographie dieses „vergessene Generalgouvernement“ ins kollektive Gedächtnis zu rufen – diesseits und jenseits der Oder.

Zu danken habe er, wie Stempin einleitend mit milder Malice vermerkt, sein konkurrenzlos erarbeitetes Pionierwerk den seit Jahrzehnten in Ehrfurcht vor der Political Correctness erstarrten bundesrepublikanischen Kollegen. Die hätten das Thema notorisch „ausgeklammert“, weil sie fürchteten, mit einer von der NS-Besatzungszeit klar positiv abhebenden Darstellung der Verwaltung Kongreßpolens durch das kaiserliche Deutschland sich den „Vorwurf der Relativierung“ einzuhandeln. Er hingegen wußte sich „frei von solchem Korsett“, wagte den Weg zu den, trotz des kriegsbedingten Verlustes einiger Regalkilometer Akten, immer noch üppig sprudelnden Quellen. Dabei sei er dem „neuesten europäischen Trend in der Geschichtsschreibung“ gefolgt, welche nun die bisher ignorierte Besatzungsherrschaft im Ersten Weltkrieg, in West und Ost, untersuche und zwangsläufig einem komparatistischen Ansatz huldige, der sich bei der Betrachtung des Zweiten Weltkrieges als „erkenntnisfördernd“ erweise. Womit Stempin schon mal das wichtigste Resultat seiner Studie vorwegnimmt: Der Vergleich beider deutschen Besatzungsherrschaften in Polen verbietet jede der hierzulande volkspädagogisch so beliebten, faktenbefreiten Konstruktionen von „Kontinuitäten“ zwischen der Ostpolitik des Kaiserreichs und der des NS-Regimes.

Für von Beseler sollte das GG Warschau militärisch den Rücken der Ostfront sichern und wirtschaftlich der Versorgung des Reiches dienen. Das hieß für ihn aber nicht, Polen als „besetzte feindliche Provinz“ rücksichtslos auszupressen. Eine Strategie, die über seinen Kopf hinweg vor allem die Oberste Heeresleitung und Berliner Kriegswirtschaftslenker wie Walther Rathenau verfolgten. Der General hingegen, obwohl umgeben von alldeutsch orientierten Offizieren, unter denen sein Stabschef als der „Prototyp des dummen miles“ herausragte, der wütend gewesen sei, „daß die Leute hier polnisch sprechen“ (Kurt Riezler), habe aufgrund seiner bildungsbürgerlichen Herkunft als Sohn des berühmten Rechtsgelehrten und 1848er-Liberalen Georg Beseler (1809–1888) das Niveau seiner Entourage weit überragt. Plädierte das Gros dieser „Hakatisten“ für eine „Politik der Daumenschrauben“, wollte von Beseler mit „Strenge und Fairneß“, mit „dem Kriegsbeil und einem Ölzweig in den Händen ‘moralische Eroberungen’“ machen und die – aus heutiger Sicht kaum glaublich – eisenhart prorussische Einstellung des polnischen Bürgertums in Sympathie für Deutschland ummünzen.   

Beileibe kein Polen-Enthusiast, steuerte von Beseler doch auf dem von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg eingeschlagenen Kurs das Ziel an, mittelfristig ein unabhängiges Polen als Alliierten gegen Rußland zu gewinnen. Dafür konzentrierte er sich, schwierig genug bei einer Bevölkerung mit 70 Prozent Analphabeten und hauchdünner städtischer Bildungsschicht, auf kulturpolitische Maßnahmen. Gute Ansätze dazu, die jedoch in Friktionen endeten, zeigte seine Schul- und Kirchenpolitik, die Stempin in allen ihren Facetten vielleicht zu ausführlich schildert. Daneben versuchte von Beseler die polnische Identität zu stärken, indem er Gedenkfeiern und Vereinsgründungen erlaubte. Als temporär wirksamste Sympathiewerbung erwies sich jedoch die Wiedereröffnung der Warschauer Universität im Herbst 1915. Dort lehrten nunmehr polnische statt russischer Professoren polnische Studenten, die nicht länger, wie einst Rosa Luxemburg, auf ausländische Hochschulen ausweichen mußten.

Nicht nur wegen der von Anfang an irrlichternden, nach Bethmann Hollwegs Rücktritt im Juli 1917 geradezu konfusen Berliner Polenpolitik bewertet Stempin von Beselers „Kulturbringer“-Mission als gescheitert. Zu viele andere Hunde seien des Hasen Tod gewesen. Zu denen zählt er die Unversöhnlichkeit des katholischen Klerus genauso wie das jeden „moralischen“ Eroberungsversuch abschmetternde, im Deutschenhaß geeinte chauvinistische Lager, das in „großpolnischen, megalomanen Visionen“ schwelgte und schon 1916 verblendet meinte, alle deutschen Zugeständnisse als ungenügend abweisen zu können. 

Arkadiusz Stempin:  Das vergessene Generalgouvernement. Die Deutsche Besatzungspolitik in Kongreßpolen 1914–1918, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2020, gebunden, 553 Seiten, 68 Euro