© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Ohne spezifische Aggressivität
Ein kühler Blick zurück auf den Krieg von 1870/71
Oliver Busch

Der Habermas unter den bundesrepublikanischen Historikern, Hans-Ulrich Wehler (1931–2014), Haupt der unablässig Lektionen zur „Selbstverdunkelung der deutschen Geschichte“ (Gerhard Ritter) erteilenden „Bielefelder Schule“, in der Hitler-Jugend zum Leistungsethiker geformt, wich auch im hohen Alter „Forderungen des Tages“ (Thomas Mann) nie aus und bewährte sich bis zuletzt als geschichtspolitischer Dauerpolemiker. Dabei zeterte er vor allem leidenschaftlich gern gegen Otto von Bismarck und die preußische „Junkerkaste“, die das Deutsche Reich auf die Schiene Richtung Auschwitz gesetzt hätten. 

Mit Konsequenz glaubte er daher, in seinem Hausorgan Die Zeit (26/2008) endlich der von der „Bismarck-Orthodoxie“ gepflegten „zählebigen Legende vom Defensivkrieg 1870/71“ den Garaus machen zu können. Gestützt auf eine 2008 publizierte üppige Aktenedition seines Augsburger Kollegen Josef Becker schien es ihm nunmehr zweifelsfrei, daß Bismarck der „Kriegstreiber“ gewesen war, nicht der französische Kaiser Napoleon III., den der machiavellistische Vabanquespieler in der Wilhelmstraße in die Falle gelockt und zum „Offensivkrieg“ provoziert habe. Daher sei der Deutsch-Französische Krieg nicht die Ausnahme eines aufgezwungenen Verteidigungskrieges gewesen, sondern gehöre in die ebenso angriffswütige wie lückenlose „Kontinuität der von Preußen-Deutschland geführten Kriege von 1864, 1866, 1914 und 1939“. 

Man muß sich an solchen Furor erinnern, um für die kühle Sachlichkeit dankbar zu sein, mit der Peter Brandt (Hagen) heute auf den im Juli 1870 ausgebrochenen Reichsgründungskrieg zurückblickt (Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 5/2020). Demnach hatten es die Franzosen jederzeit in der Hand, nicht in Bismarcks „Falle“ zu tappen. Selbst die Emser Depesche, die Bismarck zuspitzte, um Frankreich als Aggressor dastehen zu lassen, sei nicht entscheidend für die Entfesselung des Krieges gewesen, denn als sie Paris bekannt wurde, war dort die Mobilmachung schon eingeleitet. 

Der in Versailles 1871 nachholend gegründete deutsche Nationalstaat, so distanziert sich Brandt von den „unter Fachhistorikern“ noch verbreiteten Negativklischees Wehlers, bedingte selbst wegen seiner verrufenen ostelbisch-junkerlichen „Überhänge“ auch keine „spezifische Aggressivität des wilhelminischen Kaisereichs“. Dafür seien bis 1914 kriegstreibende Faktoren auszumachen, für die es „anderswo Parallelerscheinungen“ gab.