© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

„Ich suche das Gespräch, nicht Gewalt“
Linksextremismus: Nach der lebensbedrohlichen Attacke auf Demonstranten in Stuttgart äußert sich ein Begleiter des Opfers
Martina Meckelein

Andreas Ziegler liegt immer noch in einem Stuttgarter Krankenhaus. Der 54 Jahre alte Mann ist eines der Opfer des mutmaßlich linksextremistischen Anschlags in Stuttgart vor der Corona-Demo am 16. Mai (JF 22/20). „Sein Zustand ist nach wie vor kritisch, lebensbedrohlich“, sagte Polizeisprecher Stephan Widmann gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Zum Stand der Ermittlungen möchte sich die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen nicht weiter äußern. 

„Hatte den Eindruck, daß das Linksextremisten sind“

„Wir waren auf dem Weg zur Demo“, erinnert sich Ingo Tuth, einer der Begleiter des Schwerverletzten, im Gespräch mit der JF an den dramatischen Vorfall. Gemeinsam mit Ziegler und einem weiteren Kollegen war der Maschinen- und Anlagenbediener zu Fuß unterwegs zum Cannstatter Wasen, dem großen Festplatz, auf dem sich in den vergangenen Wochen immer samstags Tausende von Bürgern treffen, um gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung zu protestieren. 

Wie Ziegler ist Tuth Mitglied der Gewerkschaft Zentrum Automobil (ZA), die sich laut Eigendarstellung als „alternative Interessenvertretungen für alle Arbeitnehmer“ und „Opposition zu den gekauften Einheitsgewerkschaften“ sieht. Dem ZA werden Verbindungen in die rechte Szene vorgeworfen. Ihr Chef Oliver Hilburger war eine Zeitlang Gitarrist der 2010 aufgelösten Rechtsrock-Band „Noie Werte“. Während sich vereinzelt AfD-Mitglieder für eine Zusammenarbeit mit ZA ausgesprochen hatten, untersagte der Landesvorstand der Partei jegliche Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft. Auch Hilburgers Aufnahmeantrag in die AfD wurde abgelehnt. 

„Wir gingen auf dem Fußweg und sahen plötzlich rund 40 Vermummte auf der anderen Seite der Straße laufen“, schildert Tuth die Ereignisse vom 16. Mai. „Ich hatte den Eindruck, daß das Linksextremisten sind.“ Plötzlich seien Leute aus dieser Gruppe ausgeschert und auf ihn und Andreas Ziegler zugelaufen. „Zwei der Typen waren hinter mir her. Der eine trat mir in die Wade, ich stolperte und fiel hin. Dann hat mir einer der Vermummten Pfefferspray ins Gesicht gesprüht. Ich schlug um mich.“ Vor lauter Pfefferspray habe er nichts gesehen. „Beim Andreas ging es noch ein Stück weiter. Er lag auf den freien Parkplätzen am Straßenrand. Alle schlugen auf ihn ein.“ Durch die 40 Vermummten mitten auf der Straße stauten sich bereits die Autos. „Doch plötzlich hörte man Polizeisirenen – und die Linksextremen hauten ab.“

Die Polizei konnte bislang keinen einzigen der Tatbeteiligten fassen. Der Angriff auf Andreas Ziegler und seine Kollegen war nicht das einzige Gewaltdelikt an diesem Tag. Bereits am frühen Morgen waren drei große Laster auf einem Firmengelände im Stuttgarter Stadtteil Untertürkheim abgebrannt. Sie sollten die Technik für die Demonstration transportieren. Auch seien andere Demonstrationsteilnehmer auf dem Weg zum Cannstatter Wasen angegriffen und Autoreifen zerstochen worden. Deshalb hat die Polizei gleich zwei Ermittlungsgruppen eingerichtet. Eine, die sich mit der Aufklärung der leichteren Delikte beschäftigt, und eine andere, die sich wegen der Schwere der Tat um den Fall des lebensgefährlich verletzen Ziegler kümmert, teilte ein Polizeisprecher mit. 

Das Landesamt für Verfassungsschutz registrierte eine Zunahme des linksextremen Personenpotentials in Baden-Württemberg. Die Zahl liege derzeit bei insgesamt 2.950 Personen und ist 2018 erneut gestiegen. Damit gibt es im Südweststaat fast doppelt so viele Links- wie Rechtsextremisten. Auch die Zahl „gewaltorientierter Linksextremisten, überwiegend Autonome, hat sich 2018 mit 880 Personen (2017: 860) nochmals leicht erhöht“. Linksextreme begingen im Jahr 2018 insgesamt 500 Straftaten, die politisch motiviert waren, davon 60 Gewaltdelikte.

Ganz besondere Sorgen bereitet den Verfassungsschützern die entsprechende Szene in der Landeshauptstadt. Der harte Kern in Stuttgart umfasse etwa 50 Leute. „Linksextremistisch motivierte Gewalt geht vornehmlich von der autonomen Szene aus“, zitieren die Stuttgarter Nachrichten einen Sprecher der Behörde. Die sogenannten Autonomen betrachteten Gewaltanwendung als legitimes Mittel. Bei diesen gewaltorientierten Linksextremisten seien bereits seit Jahren eine sinkende Hemmschwelle und eine zunehmende Brutalität festzustellen, so der Sprecher. Vor allem die Häufung der „koordinierten körperlichen Übergriffe“ wie mutmaßlich bei den Corona-Protesten stelle aus Sicht der Verfassungsschützer eine neue Entwicklung dar.

Und während Ziegler mit schwersten Schädel- und Gesichtsverletzungen um sein Leben kämpft, rufen Linksextremisten zu weiteren Gewaltakten auf. Im Szeneportal „Indymedia“ heißt es in bezug auf den Überfall auf die Gewerkschafter: „Die Auseinandersetzung war nicht sportlich und fair – das sollte aber auch nicht der Charakter einer ernsthaften antifaschistischen Intervention sein.“ Ihre Gegner – oder besser: Opfer – müßten daher „mit Schmerzen, Streß und Sachschaden rechnen“, um auf diese Weise „möglichst isoliert, gehemmt, desorganisiert und abgeschreckt" zu werden. 

Ingo Tuth ist wahrlich kein schmächtiger, ängstlich wirkender Mann. „Ich war schon auf vielen Demonstrationen. Ich suche das Gespräch, nicht die Gewalt. Seit dem Samstag habe allerdings auch ich Angst.“