© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Eine Siegerlage in Karlsruhe
Jörg Kürschner

Das Verhältnis zwischen der Bundespolitik und dem Bundesverfassungsgericht ist seit jeher spannungsreich. In Karlsruhe wird beklagt, immer mehr politische Entscheidungen würden an das höchste deutsche Gericht verlagert. In Berlin, früher Bonn, wird das Gericht zuweilen mit politischen Erwartungen überfrachtet. Ein ewiger Dualismus. Wechselweise Herbert Wehner oder Horst Ehmke wird der ruppige Satz von Anfang der siebziger Jahre zugeschrieben, man lasse sich die Ostpolitik nicht durch die „acht Arschlöcher in Karlsruhe“ kaputtmachen. 

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner dagegen freute sich über ein „schönes Geburtstagsgeschenk“ der Verfassungsrichter, genau passend übermittelt zu seinem 54. Wiegenfest. Was war passiert? Hatten doch die Richter dessen Abwahl als Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundestages im vergangenen November bestätigt (JF 48/19). Ein Grund zur Freude? Unüberhörbar bei den übrigen Fraktionen. Aber doch wohl kaum bei Brandner selbst.

Doch anders als so mancher vorschnelle Erfahrungsjurist hatte der Fraktionsjustitiar den 16seitigen Beschluß des Zweiten Senats bis zur letzten Zeile durchgelesen. Die Richter haben den Eilantrag der AfD auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zwar abgelehnt, aber zugleich hervorgehoben, daß der Rechtsstreit neue Fragen aufwerfe. Diese sollen „wegen des offenen Verfahrensausgangs“ vertieft im Hauptverfahren geprüft werden. Darauf stützen Brandner und der Rechtspolitiker der Fraktion, Roman Reusch, ihre Hoffnungen. 50:50 stünden die Chancen auf die Wiedereinsetzung Brandners in sein vormaliges Amt. Der Senat, darunter der scheidende Präsident Andreas Voßkuhle, scheint sich daran zu stören, daß die Abwahl eines Ausschußvorsitzenden in der Geschäftsordnung des Bundestags gar nicht geregelt wird. Nur von dessen Benennung ist die Rede. 

Das Recht der AfD, einen anderen Kandidaten für den Posten zu nominieren, bestreiten die anderen Fraktionen nicht. Doch das Mißtrauen in der größten Oppositionsfraktion sitzt tief, die Erinnerung an fünf gescheiterte Kandidaturen in jeweils drei Wahlgängen für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten hat die Fraktion geprägt. So lehnt die AfD die Nominierung eines Brandner-Nachfolgers ab, was ihr vor dem Gericht zum Nachteil gereicht. 

Die AfD hätte es in der Hand, die Schmälerung ihrer Oppositionsrechte durch die Präsentation eines neuen Kandidaten zwar nicht vollends zu beseitigen, aber doch zu verringern, sind die roten Roben überzeugt. Andererseits räumen die Richter ein, eine Oppositionsfraktion dürfe nicht gezwungen werden, wichtige Posten mit den „Mehrheitsfraktionen womöglich genehmeren Persönlichkeiten“ zu besetzen. Stichwort Willkür. 

Brandner ist sich sicher, das endgültige Urteil werde weit über seinen Fall hinausreichen und die Rechte zwischen den Oppositions- und den Mehrheitsfraktionen klären. Da dürften ihm seine Kollegen, die ihn abgesetzt haben, wohl ausnahmsweise zustimmen.