© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Also lautet ein Beschluß
Der Unterricht in den Schulen läuft eingeschränkt und mit Hindernissen: An der Berliner Basis viel Einsatz – und viel Unmut
Hermann Rössler / Christian Rudolf / Zita Tipold

Der 17 Jahre alte Hasan F. (*) sitzt auf den Treppen eines Hauseingangs gegenüber der Berliner Robert-Jungk-Oberschule. „Ich würde gerne die Oberstufe schaffen, gerade ist das aber etwas unsicher“, sagt der Zehntkläßler der JUNGEN FREIHEIT von seinem durch die Pandemie veränderten Schulalltag. Es ist Freitag mittag, als der Junge darauf wartet, daß sein Unterricht beginnt. Da sein Jahrgang in getrennten Einheiten unterrichtet wird, füllt ein anderer Teil seiner Mitschüler morgens die Lehrräume. Mit weniger Lerneinheiten und fast einem Drittel Lehrer, die fehlen, sei es schwer, dem Schulstoff nachzukommen, erzählt Hasan etwas resigniert. Zudem fielen auch die Prüfungen aus und müßten irgendwann nachgeholt werden. „Aus reiner Logik sollte dieses Schuljahr nicht so sehr in die Benotung eingehen“, findet er. Obgleich die derzeitige Situation „schon sehr chaotisch“ sei, bemühten sich die Lehrer aber sehr um die Pennäler. „Sie machen das gut.“ Ein „bißchen Angst“ mache ihm die ganze Situation aber dennoch.

Klassenlehrer im Dauerstreß

Mit diesem Gefühl der Unsicherheit steht dieser Schüler nicht allein da. Ein vergleichbares Gefühl der Verwirrung haben wohl nur DDR-Schüler zur Wendezeit erlebt, als mit dem Wegbrechen der SED-Herrschaft der gewohnte Ordnungsrahmen einer nie gekannten Orientierungslosigkeit wich. Während das Studium an den Universitäten auf Beschluß der Hochschulkonferenz im laufenden Sommersemester weitgehend digital und online bleibt, sollen Schüler in diesem Monat bundesweit noch mal verstärkt ins analoge Lernen mit häufigerer Anwesenheit in den Schulen zurückkehren.

Für Eltern eine enorm fordernde Zeit. Und für Lehrer, die Kernfächer geben, nicht weniger. „Der Fernunterricht war sehr aufwendig“, berichtet Claudia Schmid (*), die Lehrerin an einer Grundschule im ehemaligen Westteil Berlins ist, aus der Phase 1 von Mitte März an, wo die Schulen komplett geschlossen waren. „Wenn ich gewöhnlich zur Leistungskontrolle vier Schüler mit deren Aufgaben im Unterricht drannehme“, so die Mittvierzigerin gegenüber der JF, „so mußte ich ja während der Phase 1 ohne Präsenz die zu Hause gemachten Aufgabenblätter der gesamten Klasse ansehen, um niemanden zu benachteiligen.“

So erging es auch Franziska Jentsch (*), die Klassenlehrerin an einer Grundschule im Südosten ist. „Ich mußte sehr viel am Wochenende arbeiten und die Aufgaben der gesamten Woche kontrollieren.“ Problematisch aus ihrer Sicht: die unterschiedliche Belastung der Kollegen. „Während Lehrer wie ich, die Hauptfächer unterrichten, vom Arbeitspensum her normal weiterarbeiteten, saßen Sport- oder Musiklehrer zu Hause. Die hätten viel besser integriert werden können. Beispielsweise wurden für das ‘Home-Learning’ nur Aufgaben für die Hauptfächer verteilt, warum eigentlich nicht auch für die anderen Fächer?“ Viel Lernstoff blieb so liegen, durchaus unnötigerweise.

In den Bundesländern hat die Phase 2 mit Lockerungen in einem rollierenden System begonnen, so beispielsweise in Baden-Württemberg seit dem 4. Mai, in Berlin seit dem 11. Mai, zunächst für die 6. Klassen, die vor dem Übergang in weiterführende Schulen stehen. Gegenwärtig gilt ein Zwei-Schicht-System mit Unterricht bis 11 Uhr und ab 11.30 Uhr, getrennten Ein- und Ausgängen und großzügiger Lüftung der Räume zwischendurch. „Jede Klasse wird in zwei Gruppen geteilt“, erklärt Lehrerin Schmid. „Wir sind dreizügig, es gibt also sozusagen sechs 6. Klassen.“ Um Personenströme zu entzerren, kommen in der laufenden ungeraden Kalenderwoche die 2., 5. und 6. Jahrgangsstufen zur Schule, in den geraden Kalenderwochen kommen die Erst-, Dritt- und Viertkläßler. So soll es bis zum Schuljahresende bleiben. Auf Geheiß des Berliner Senats werden nur die Kernfächer unterrichtet: Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften. Falls von dort nicht wieder neue Anordnungen eintreffen.

In der Praxis funktionieren die Vorgaben nur, soweit die örtlichen Bedingungen es hergeben: „Richtiger Unterricht ist kaum möglich, weil es a) zu wenig Lehrer gibt, weil ganz viele zur Risikogruppe zählen und b) zu wenig Räume vorhanden sind“, erzählt Jentsch frustiert der JF. Ab 2. Juni zählen zu Risikogruppen nicht mehr automatisch alle ab 60 Jahren, sondern auch Jüngere je nach Krankheitsgeschichte. Die dürfen Präsenzunterricht nur mit Attest geben.

Zensuren – ja, aber nur bessere als vor Corona

Beide Lehrerinnen stellen dem Krisenmanagement der Senatsbildungsverwaltung ein schlechtes Zeugnis aus. „Sehr plötzlich kommen neue Entscheidungen“, stöhnt Schmid. „Erst heißt es von oben: ‘Naja, wir fangen mal erst so an mit den Sechstkläßlern.’ Unsere Schulleitung hat sich dann sogar über Feiertage hingesetzt und entsprechend ein Raumkonzept erarbeitet. Mit Abstandswahrung, Tischaufstellungen, Laufrichtung. Wir haben Glück im übrigen, bei uns ist Platz. Dann zwei Wochen später die Ansage: ‘Alle Schüler sollen noch mal vor den Sommerferien zur Schule.’ Also, alles Makulatur, wieder ein neues Raumkonzept machen.“

Jentsch berichtet, auf völliges Unverständnis in der Kollegenschaft treffe die Entscheidung der Senatsbildungsverwaltung, in Corona-Zeiten auf Zensuren zu bestehen. Zumal in der zweiten Aprilhälfte eben dort beschlossen wurde, daß sich durch Benotungen einschließlich der zehnten Klassen niemand verschlechtern dürfe gegenüber der Vor-Corona-Zeit, höchstens verbessern. „Das ist der größte Hohn, weil Heim-Schulzeit benotet wird, die aber nicht ehrlich ist, weil Eltern ja mithelfen.“ In der aktuellen Situation könne man kaum noch richtig Tests schreiben. „Ein Lehrer muß eine Klasse in zwei Räumen betreuen. Es herrscht natürlich laufend Lärm. Die Kinder machen aber nichts, wenn der Lehrer rausgeht.“ Resigniert entfährt es ihr: „Das Handeln und die Entscheidungen der Senatsverwaltung sind mit gesundem Menschenverstand nicht nachzuvollziehen.“

Aus dem Senat gebe es Signale, daß die Beschränkungen aufgrund der Corona-Epidemie nach den Sommerferien weitergelten könnten. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Und Ferienbeginn ist in drei Wochen.