© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Die letzten Orte der Welt
Jörg Bernig zeigt sich in seinem jüngsten Essayband als leidenschaftlicher Mitteleuropäer
Bettina Gruber

Die Berufung des Dichters, Romanciers und Essayisten Jörg Bernig zum Kulturamtsleiter von Radebeul, einem Städtchen mit sage und schreibe 38.000 Einwohnern, hat gemessen an der Bedeutung der Position eine mediale Monsterwelle erzeugt. Daß es in der Lokalpresse und in den sächsischen Blättern kräftig raschelte, nimmt nicht wunder, aber selbst die Süddeutsche Zeitung und der Spiegel fühlten sich bemüßigt, die Wahl zu kommentieren.

Ein Rechter sei mit den Stimmen von CDU und AfD ins Amt gewählt worden (JF 23/20), wird dort mit dem Tremolo beleidigter Rechtschaffenheit kolportiert. Die Wahl habe, so die Süddeutsche, landesweit Empörung ausgelöst – vermutlich überwiegend bei Leuten, die nie eine Zeile von Bernig gelesen haben.

Wie ernst diese Berichterstattung zu nehmen ist, ist ohnehin fraglich: Es handelt sich um eine geheime Wahl, und im Städtchen kursieren Gerüchte, daß Grüne und Linke, die dem (parteilosen) Bürgermeister spinnefeind sind, dem Autor ihre Stimme gegeben hätten, um Oberbürgermeister Bert Wendsche zu beschädigen. Falls dies das Kalkül gewesen sein sollte, scheint es aufzugehen, denn der Bürgermeister ist nun Angriffen von allen Seiten ausgesetzt. 

Was ist es aber an der Wahl eines Poeten, der in seiner feinen Wahrnehmung von Natur und Alltag mitunter an Peter Handke erinnert, das den linkshegemonialen Betrieb in ein gereizt durcheinandersummendes Wespennest verwandelt? Es sind natürlich nicht die Erzählungen und Gedichte, sondern die Wortmeldungen als Person des öffentlichen Lebens, die für Angriffe herhalten müssen, weil sie Bernig als kritischen Nonkonformisten erkennbar machen. Heftig attackiert wurde „‘Habe Mut’ … eine Einmischung!“ (2016), ein Text, den er als „3. Kamenzer Rede“ – nach Friedrich Schorlemmer und Feridun Zaimoglu – in Lessings Geburtsstadt vortrug (JF 40/16). Der Titel greift auf Kants berühmte Aufforderung „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ zurück, die Rede kritisiert in ebenso scharfer wie kultivierter Form die sogenannte Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und die der „Politik der offenen Grenzen“ zugrundeliegende Geisteshaltung.

Schon 2015 hatte Jörg Bernig mit seinem Artikel „Zorn allenthalben“ in der Sächsischen Zeitung das Thema zur Empörung und Freude der verfeindeten Lager aufs Tapet gebracht. „Heute schreiben so etwas viele (…), aber damals, vor den Übergriffen des Kölner Silvesters, wagte das kaum jemand“, kommentierte anerkennend die Neue Zürcher Zeitung im März vorigen Jahres. 

Nun hat Jörg Bernig in der von der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen herausgegebenen Reihe „Exil“ einen Essayband veröffentlicht. „An der Allerweltsecke“ vereint vier Texte, die eines gemeinsam haben: Sie vermessen ein Mitteleuropa, in dem sich Mythos, Geschichte und scharf beobachtete Gegenwart überlagern und durchdringen. Der Band vereint Beobachtungen aus Belgrad, Bosnien-Herzegowina, aus Schlesien und dem Böhmischen.

Reiz und Erkenntniswert bestehen darin, daß das Gegenwärtige ganz präzise gesehen wird, während sich gleichzeitig hinter den Details des Alltags Blicke in die historische Tiefe dieser alten Kulturräume eröffnen. Die „letzten Orte“, abgekoppelt von der westeuropäischen Welt des totalen Warenkonsums, tragen die Spuren alter und neuer Gewalt und erscheinen nirgends idealisiert.

Schmerzhaft deutlich wird das in dem Bericht über eine Bosnien-Reise, wo die Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt über die „Sniper Alley“ führt, die Straße, auf der sich die Scharfschützen verschanzten, um die Passanten ins Visier zu nehmen, und wo immer noch „zerstörte, ausgebrannte Häuser“ auf die Vorbeifahrenden starren. Der Beobachter berichtet plastisch, ergreift aber keine Partei. Ebensowenig verschweigt er aber hierzulande ungern Gehörtes wie die Tatsache der fortschreitenden Islamisierung dieser Region.

Bewegend ist auch der Besuch „im weltvergessenen Winkel“ Böhmens, wo der Autor den Spuren seiner Vorfahren nachgeht und auf überwucherte Gräber stößt. „Es ist Zeit zu gehen, hinunter in die Stadt, die Nekropolis bleibt oben auf dem Hügel zurück, die Grablichter in den Urnenhäusern flackern seltsame Signale in die dunkle Welt.“

Der Band überführt all jene zumindest der Ahnungslosigkeit, die ohne jeden Textbeleg den Autor in den sozialen Medien als „Nationalisten“, gar als „Rassisten“ anschwärzen. Daß dieses Etikettierung verleumderisch ist, hätte man schon der Kamenzer Rede, aber auch seiner früheren Essaysammlung „Der Gablonzer Glasknopf“ (2011) entnehmen können, die ebenso mitteleuropaverliebt und grenzüberschreitend ist wie die aktuelle. 

Anläßlich der Verleihung des Großen Kunstpreises der Stadt Radebeul 2013 lobte Oberbürgermeister Wendsche seine Kommune in blumigen Worten: „Radebeul ist vor allem deswegen Radebeul und wird als solches wahrgenommen, weil es anders ist, weil es einen eigenständigen Charakter, eine eigenständige Identität hat.“ Er dankte dem Preisträger für „seinen unverwechselbaren Beitrag für die Entwicklung unserer Stadt, unserer Region.“ Doch mit der Eigenständigkeit soll dann offenbar doch nicht allzu ernst gemacht werden. Beiträge, die sich der linksliberalen Hegemonie über den Kulturbetrieb entziehen und damit tatsächlich eigenständig sind, brechen ihrem Urheber auch in Sachsen 2020 womöglich das Genick.

Die Wahl eines Radebeuler Kulturamtsleiters soll jedenfalls am 15. Juni wiederholt werden.

Jörg Bernig: An der Allerweltsecke. Essays. Edition Buchhaus Loschwitz, Dresden 2020, broschiert, 160 Seiten, 19 Euro