© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Die inneren Feinde im Blick
Wiedergelesen: Milan Kunderas 1984 erschienener Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“
Thorsten Hinz

Große Literatur erzählt nicht nur von der Zeit, in der sie spielt und verfaßt wurde, und von den Orten, wo sie handelt. Sie zitiert, variiert und ergänzt grundlegende Erfahrungsmuster und antizipiert Künftiges, weshalb Leser, die zu ganz anderen Zeiten und unter ganz anderen Umständen leben als der Autor und seine Figuren, ihre Wirklichkeit teilweise darin wiederfinden.

Milan Kunderas 1984 erschienener Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ zählt zweifellos zu dieser Kategorie. Er spielt überwiegend in der Tschechoslowakei, in Prag, in den ersten Jahren unmittelbar nach der sowjetischen Invasion am 20. August 1968, die den „Prager Frühling“ und damit die Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zunichte machte. 

In den Monaten davor war in dem Ostblock-Land etwas Wundersames geschehen: Die Kommunistische Partei hatte auf ihr Machtmonopol weitgehend verzichtet, bürgerliche Freiheiten: Rede-, Reise- und Versammlungsfreiheit, die Freiheit von Wissenschaft, Kunst, Kultur, Medien, wurden gewährt. Die Wirtschaft wurde teilweise privatisiert und liberalisiert. Das alles wurde ab dem 20. August unter dem Schlagwort „Normalisierung“ wieder rückgängig gemacht. Eine langsam, fein und geduldig arbeitende Repressionsmaschine setzte sich in Gang.

In ihr Mahlwerk gerät auch der Chi-rurg Tomas, einer der besten Operateure der Stadt und außerdem ein Frauenheld, ein Erotomane, der sich für Politik kaum interessiert. Aus einer Laune heraus, aus einer Mischung aus Erkenntnisinteresse und Provokationslust, hatte er in der Tauwetter-Phase einen Text über die geistige und moralische Beschaffenheit der Kommunisten verfaßt, deren Herrschaft scheinbar zu Ende ging, und ihn an eine oppositionelle Zeitschrift geschickt.

Für den höheren Zweck Menschen umbringen

Er ging davon aus, daß Verbrecherregime nicht von Verbrechern, sondern meistens von Enthusiasten erschaffen werden, die davon überzeugt sind, den Weg zum Paradies auf Erden gefunden zu haben. Um ihn von Hindernissen freizuräumen, nehmen sie sich Vorrechte heraus, sogar das Recht, für den höheren Zweck Menschen umzubringen. Nun ist jedoch aktenkundig geworden, daß es dieses irdische Paradies gar nicht gibt und niemals geben wird. Die aus vermeintlich höherer, geschichtsphilosophischer Einsicht getötet haben, stehen nun als simple Mörder da. Zum Beispiel der Staatsanwalt, der in den fünfziger Jahren aufgrund absurder Beweismittel des sowjetischen Geheimdienstes das Todesurteil für den Angeklagten gefordert und bekommen hatte. Nachdem von ihrer historischen Mission nichts geblieben ist als blutige Schande, verteidigen diese Leute die Reinheit ihrer Seelen, indem sie sich an die Brust schlagen: Wir haben es nicht besser gewußt! Wir haben geglaubt! Wir sind irregeführt worden! 

Tomas hielt es für wahrscheinlich, daß die meisten Kommunisten tatsächlich geistig beschränkt waren. Weshalb für ihn die Frage nicht lautet, ob sie tatsächlich nichts wußten, sondern: „Ist der Mensch unschuldig, weil er unwissend ist?“ Er stellte einen Vergleich mit Ödipus an, der ahnungslos seinen Vater tötete, die eigene Mutter heiratete, mit ihr Kinder zeugte. Obwohl unwissend, fühlte er sich schuldig und konnte den Blick auf das angerichtete Unglück nicht ertragen. Er stach sich die Augen aus und verließ Theben.

Die kommunistischen Kleingeister, die dem sowjetischen Botschafter längst die Türen einliefen und um Beistand anflehten, verstanden die moralphilosophische Fragestellung natürlich nicht. Sie lamentierten: „So weit ist es gekommen! Man schreibt bereits öffentlich, man soll uns die Augen ausstechen!“ In Wahrheit war Tomas mit ihnen gnädig verfahren. Er wünschte nur, daß sie, nachdem sie 20 Jahre lang im Land gewütet hatten, endlich das Maul hielten und die anderen in Ruhe ließen.

Nach der Invasion wird er von Abgesandten der zuständigen Organe aufgefordert, den Text öffentlich zu widerrufen. Der Klinik-Chef, der ihn unbedingt im Haus behalten möchte, rät ihm dringend zu: In einer aufgeklärten Gesellschaft könne man einen Gedanken doch gar nicht widerrufen, nur widerlegen. Folglich sei ein Widerruf eine sinnfreie Formalie, die ihn gar nicht zu tangieren brauche. Auch war der Text für den Abdruck ohne Absprache gekürzt und die Aussage damit zugespitzt worden, so daß er sich beim Erscheinen schon gar nicht mehr mit ihm identifizierte.

Trotzdem verweigert Tomas das Dementi. Er glaubt nicht, mit der widerständigen Geste etwas zu bewirken, aber er will sich seinen Stolz bewahren. Mit der Distanzierung wäre es auch nicht getan. Als nächstes soll er den Redakteur belasten, der die Kürzungen eigenmächtig vorgenommen hat. Das Regime will die Unterworfenen zu Komplizen machen.

Unter dem Druck des sanften Terrors kommt den Menschen die Wirklichkeit abhanden. Die Fotografin Teresa, die für die Auslandspresse den Protest gegen die sowjetischen Panzer dokumentiert hat, muß ohnmächtig hinnehmen, daß ihre Fotos den Behörden als Vorlage dienen, um Oppositionelle zu identifizieren und hinter Gitter zu bringen. Es gibt Indizien, daß ihr Liebhaber, der sie als zufälliger Retter aus einer Notsituation erlöste, in Wahrheit ein Geheimdienst-Mann ist, der ihr Vertrauen erschleichen und sie kompromittieren soll. Ein Grauschleier des Mißtrauens und der Tristesse legt sich über das öffentliche und private Leben.

Regimekritische Akademiker werden entlassen, die Zeitungen veröffentlichen die Schuldbekenntnisse reuiger Oppositioneller, der Rundfunk sendet abgehörte Privatgespräche von Wortführern des „Prager Frühlings“. So die Gespräche des Schriftstellers Jan Procházka, der sich privatim über seine Mitstreiter lustig gemacht hat. Interessanterweise richtet sich daraufhin die Empörung der Leute gar nicht gegen den Staat, der die Intimsphäre der Bürger verletzt, sondern gegen die Opfer der staatlichen Praktiken. Procházka starb 1971 mit nur 42 Jahren an Krebs. Seine Tochter sagte 2019. „Ich glaube fest: Die Krankheit wurde durch immer neue Verfolgungen und Verhöre ausgelöst.“ Generell stieg die Sterberate in dieser Zeit steil an.

Woher die Büttel und Denunzianten nehmen?

Kundera geht der Frage nach, wie die Leute, die nach 1968 das Unterdrückungssystem am Laufen halten und Nutzen aus ihm ziehen, beschaffen sind. Nach dem „Prager Frühling“ kann niemand mehr Naivität oder Unwissen vorschützen und sich auf die Reinheit der kommunistischen Idee zurückziehen. Das Versagen und die Verbrechen des Systems hatten für jeden einsehbar auf dem Tisch gelegen; die alte, panslawische Liebe zu Rußland war von der Invasion getötet worden.

Woher also die Funktionäre, die Büttel, Propagandisten, die pseudowissenschaftlichen Zuarbeiter, die Spitzel und Denunzianten nehmen, die bereit sind, die Repression zu ihrer Sache zu machen und die benötigt werden, um den alten Wahnsinn wieder in sein Recht einzusetzen? Die sich auf die Lauer legen, vor bekannten Treffpunkten herumschnüffeln, heimlich Fotos schießen; die Zeitschriften, Zeitungen, Bild- und Filmarchive durchforsten, verdächtige Äußerungen, Handlungen, Gesten, Kontakte ermitteln und bewerten, die zur Erpressung und Maßregelung geeignet erscheinen? Die ihren Ehrgeiz daran setzen, soziale und psychische Existenzen zu zerstören, Mißliebigen ihre Ohnmacht vorzuführen und sich durch deren Erniedrigung zu erhöhen – immer mit der öffentlichen Macht im Rücken, ohne die sie zu subalternen, bedeutungslosen Wesen schrumpfen würden?

Die Okkupanten und ihre tschechoslowakischen Satrapen „suchten sie unter denen, die nichts anderes im Sinn hatten, als sich am Leben zu rächen. Man mußte ihre Aggressivität lenken, pflegen und in Alarmbereitschaft halten. Man mußte sie trainieren, zunächst einmal an einem provisorischen Objekt.“ In der Presse erschienen Artikelserien und Leserbriefe, die sich zuerst gegen die Taubenplage, dann gegen streunende Hunde richteten. „Die Menschen waren noch völlig verzweifelt über die Katastrophe der Okkupation, aber in den Zeitungen, im Radio und im Fernsehen war von nichts anderem die Rede als von den Hunden, die Gehsteige und Parkanlagen verunreinigten, auf diese Weise die Gesundheit der Kinder gefährdeten, zu nichts nütze wären und trotzdem gefüttert würden.“ Eine regelrechte Psychose wurde erzeugt und brachte einen „aufgebrachten Pöbel“ hervor.

Das eigentliche Ziel aber waren Menschen, genauer, die inneren Feinde. Nach einem Jahr war die Gesellschaft genügend zermürbt, daß man damit beginnen konnte „zu entlassen, zu verhaften, zu prozessieren“. Was Kundera ironisch, mit verblüffend leichter Hand und aus der Distanz seines französischen Exils beschrieb, war nicht weniger als eine institutionalisierte Herrschaft von Minderwertigen, die bis zum Sturz des kommunistischen Regimes – in Prag als „Samtene Revolution“ bezeichnet – andauerte.

Die Vorstellung, daß dieser Menschenschlag 1989 für alle Zeiten in den Zustand der Machtlosigkeit versetzt wurde, ist angenehm und verführersich. Leider ist sie viel zu schön, um wahr zu sein.