© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Unsere politischen Begriffe passen nicht mehr
Mehr Vernunftrepublikaner
Eberhard Straub

Unsere politischen Bestimmungen, rechts, links, liberal, konservativ oder gar faschistisch, sind veraltet und taugen nicht dazu, die soziale Wirklichkeit und politischen Mentalitäten auch nur annähernd erfassen und beschreiben zu können. Am auffälligsten wird diese Unzulänglichkeit bei der dauernden Beschwörung eines bürgerlichen Lagers, der bürgerlichen Mitte und der bürgerlichen Parteien. Der Bürger als sozialer Typus mit ihn charakterisierenden Lebensformen ist längst verschwunden. Es gibt die Besserverdienenden, die sich von denen, die mit „Billiglöhnen“ zufrieden sein müssen, nur dadurch unterscheiden, daß sie sich zuweilen etwas gönnen können, ohne auf den Preis zu achten. Der Bildungsbürger, vor allem der Akademiker, und der Wirtschaftsbürger begriffen sich als Staatsbürger. Vom Staatsbürger ist kaum noch die Rede. Die Politiker wenden sich an sogenannte Menschen, bemüht, jedes Problem zu einem menschlichen zu machen.

Die Würde des Menschen und dessen Möglichkeiten, das Beste aus sich zu machen, beruhen nicht mehr vornehmlich auf Rechten, sondern auf Werten. Diese überwölben und verdrängen das Recht und den Staat. Der bürgerliche Rechtsstaat verschwindet allmählich in einer Wertegemeinschaft allgemeiner Mitmenschlichkeit. Louis de Bonald, ein aristokratischer Reaktionär und bemerkenswerter Soziologe im frühen 19. Jahrhundert, bekannte, nie einen Menschen getroffen zu haben, sondern nur Deutsche, Italiener oder Spanier mit allerlei weiteren Merkmalen, die sie näher charakterisierten und seine politischen Prinzipien bestimmten, ob als Aristokrat, Bürger, Bauer oder Proletarier. Aristokraten und sämtliche Landbesitzer begriffen sich nach der Französischen Revolution als konservativ. Sie fochten für das monarchische Prinzip, die Liberalen und Bürger dachten an den Konstitutionalismus und den Rechtsstaat, die Arbeiter forderten die Demokratie. Politische Programme waren mit gesellschaftlichen Klassen unmittelbar verbunden.

Diese übersichtliche Einteilung geriet schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Krise. Aristokraten wurden zu Agrarunternehmern. Der Konservativismus ging daher im Wirtschaftsliberalismus auf,  wohingegen Liberale an einem nationalen Sozialdemokratismus bastelten aus Angst vor dem Sozialismus. Während des Ersten Weltkrieges wurden das Bürgertum und sein Liberalismus zerrieben. Beides hatte sich erledigt. Es ging nun darum, die bürgerliche Nation mit dem Sozialismus zu versöhnen und die gesellschaftlichen Unterschiede in einer alle umfassenden Volksgemeinschaft einzuebnen. Das war das Ziel sämtlicher rechter und linker Entwürfe für eine neue Gesellschaft im neuen Staat, die sich im Nationalsozialismus und Faschismus vermischten.

Statt von der Volksgemeinschaft sprach man nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sozialpartnerschaft. Aus Staatsbürgern wurden Partner, die sich in der Konsensdemokratie der Volksparteien und des von ihnen gestellten Volkskanzlers ergänzten.

Sie beseitigten – wie auch der Kommunismus – die Reste der überkommenen gesellschaftlichen Ordnung. Eine Restauration früherer Verhältnisse war nach vielen Umbrüchen und Katastrophen unmöglich geworden. Statt von der Volksgemeinschaft sprach man nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sozialpartnerschaft. Aus Staatsbürgern wurden Partner, die sich in der Konsensdemokratie der Volksparteien und des von ihnen gestellten Volkskanzlers ergänzten. Pluralismus und damit Opposition gerieten bald in den Verdacht, die freiheitlich-rechtliche Grundordnung zu gefährden. Im Kalten Krieg hielten sich alle an den Appell des alten Attinghausen in Schillers Wilhelm Tell: „Seid, einig, einig, einig!“

Die alten Eliten, diskreditiert durch mancherlei Kompromisse, hatten ihr Ansehen schon vor 1933 eingebüßt, Die Arbeiter und Proletarier waren in den zwölf Jahren des Nationalsozialismus zum Verkehrsteilnehmer und Verbraucher aufgestiegen. Deutsche im Wirtschaftswunderland suchten ab 1949 in der Freizeit Erlebnisse und Spaß, Ferien vom arbeitsamen Ich. Die philosophischen und politischen Postulate des Liberalismus, des Zentrums und der SPD gerieten in Vergessenheit. Sie waren bedeutungslos und unpraktisch geworden. Frei sein meinte nun ein sehr privates Lebensgefühl: Genuß ohne Reue, den eine beliebte Filterzigarette versprach. Die fröhliche Konsumgesellschaft wurde vom Festredner als allgemein anerkannter und beneideter Teil des Westens gefeiert, der in Einkaufsparadiesen für sich als Erlösung von allen Übeln warb.

Die Politik überließen die Vergnügungssüchtigen den Parteien und deren Funktionären. Beide fügten sich umstandslos den Forderungen einer stets neuer Dinge begierigen Unterhaltungsindustrie. Sie bemühten sich um gewisse Abwechslung mit ihren politischen Angeboten in froher Übereinstimmung, auf der richtigen Seite zu stehen und darum bemüht, moralisch hochgerüstet der Zugehörigkeit zum Westen stets würdig zu bleiben. „Der Westen“ bedeutete für die „Westdeutschen“ die beste aller nur denkbaren Welten, das Ende der Geschichte, gerade der deutschen, die im Westen an ihr Ziel gelangte. Die Geschichte wurde in einem ganz neuen Sinne zur innerweltlichen Heilsgeschichte.

Während der Wahlkämpfe bedurfte es freilich einiger effektvoller Dramatik, um „den Eingeborenen in Trizonesien“ oder eben in Westdeutschland zu suggerieren, es ginge um Richtungsentscheidungen zwischen den Rechten oder Linken, Konservativen oder Sozialisten. Diese inszenierten Gegensätze waren schlechtes Theater. Alle Parteien waren  demokratisch, die Christdemokraten, die Freien Demokraten und die Sozialdemokraten. Kein Christdemokrat wollte konservativ oder rechts sein und mit früheren gescheiterten Experimenten irgend etwas zu tun haben. Es gab für sie nichts zu bewahren außer den Fundamenten der freien Marktwirtschaft und der sozialen Solidargemeinschaft: alle für einen, einer für alle. Die Christdemokraten wollten Massen für sich gewinnen, die sie seitdem wolkig als Mitte umschmeicheln, die völlig unkonkret bleiben muß, wenn es weder rechts noch links gibt oder geben darf.

Die SPD verzichtete alsbald darauf, als links mißverstanden zu werden. Auch sie wollte eine Volkspartei sein, Kein Sozialdemokrat las mehr Marx, Engels und die anderen Klassiker des Sozialismus. Der pragmatische Waldemar von Knoeringen führte die SPD in die Mitte. Dorthin drängten auch die Freien Demokraten. In der Mitte gab es kaum noch Platz, da fast alle Westdeutschen sie für sich in Beschlag nahmen. Wer es wagte, tatsächlich links, also Kommunist, zu sein, oder gegen Reaktion und Rotfront in der Nachfolge der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) weiter streiten wollte, den vertrieben ein fürsorglicher Verfassungsschutz und Gerichte aus der allgerechten Mitte, aus der Gemeinschaft kritischer Sozialpartner, weil jeder eindeutige Bruch mit dem Konsens einen Angriff auf die Parteien der Mitte bedeutete, die nichts so fürchten wie den Verlust der Mitte.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Sowjetunion verlor der Westen, mittlerweile eine moralisch aufgerüstete Wertegemeinschaft, seinen Feind. Links gab es nicht mehr.

Die Antifaschisten halten den Faschismus am Leben oder ein Phantom von ihm. Er ist das Gespenst ihrer Seele. Ihr Bild vom Faschismus, als Inbegriff einer bösartigen, rechten Gewalt, ist kein historisch-politisches, es ist ein moralisches, ja religiöses.

Wer sich weiterhin noch links nannte, warb für erweiterten Lebensgenuß. Für die Demokratie stirbt man nicht, für sie lebt man mit alternativen Daseins­entwürfen von phantasievoller Erotik bis zur fast erotischen Hingabe an ein Klima, das immer verlockend wirkt, solange es bleibt wie es ist. Die Linken gaben sich lebensdurstig und unternehmungslustig und hatten sich mit dem mobilen Kapital versöhnt. Als bohémiens, als bourgeoise Lebenskünstler mit scharfem Blick auf Karriere und mediale Aufmerksamkeit, machten sie die Mitte attraktiver und bunter und verlockender gerade für modebewußte Provinzler in der CDU.

So blieb der einzige Feind für die demokratischen Besatzungsmächte der Mitte der Faschismus, der niemals stirbt, da er dauernd von den Toten aufersteht und die Menschheit, ja jeden  Menschen in der schönen, weiten Welt bedroht. Der Faschismus ist freilich nur ein vages Schlagwort. Faschistisch ist alles, was einem wehrhaften und wahrhaften Demokraten mißfällt – und energische Antifaschisten beunruhigt jeder, der ihre Lebens- und Denkgewohnheiten nicht teilt. Das Andere und der Andere sind nur wohlgefällig, wenn beide sich assimiliert, integriert und ihrer jeweiligen Umgebung angeglichen haben und humanistische Homogenität oder Einfalt vor unberechenbarer Vielfalt bewahren. Denn Pluralismus bietet keinen Schutz vor immer und überall tätigen Faschisten. Daher keine Toleranz den Intoleranten! Denn diese reden ununterbrochen von Unterschieden, von besonderen Religionen, Kulturen, Nationen oder gar von Völkern und deren Identität, was für jeden Menschenfreund im Lande der Volksparteien und Volkskanzler ganz schrecklich und einfach unerträglich ist.

Die Antifaschisten halten den Faschismus am Leben oder ein Phantom von ihm. Er ist das Gespenst ihrer Seele. Die etablierten Volksparteien verlieren erheblich an Zuspruch wegen ihrer geistigen und politischen Dürftigkeit, ja kulturellen Bedeutungslosigkeit. Sie geraten in Panik, weil sich das herkömmliche Parteiensystem, wie es nach 1945 eingerichtet worden war, allmählich auflöst. Erst in Italien, dann in Frankreich, jetzt in Österreich und Deutschland. Die um ihr Überleben kämpfenden Parteien „der Mitte“ verweigern sich jedem Wandel. Sie verwechseln ihre Vorherrschaft mit der Demokratie. Wer sie angreift, erweist sich als schlechter Demokrat, als faschistischer Populist und Unhold.

Ihr Bild vom Faschismus, als Inbegriff einer bösartigen, rechten Gewalt, ist kein historisch-politisches, es ist ein moralisches, ja religiöses. Der Faschismus als ununterbrochen wirksame Gefahr ersetzt in nachchristlicher Zeit das mysterium iniquitatis, die geheimnisvolle Macht des Bösen, verklärt von der Sonne Satans. Der Antifaschismus gehört zur Politischen Theologie und soll die Herren der Mitte vor Anschlägen der Ungläubigen bewahren. Er rechtfertigt die Herren der Mitte, so wie einst christliche Theologen, wahrhaft und wehrhaft, ihre von Gott in die Mitte gesetzten Herrscher legitimierten. Gegen solche absolutistischen Vorstellungen protestierten früher vehement Vernunftrepublikaner. Sie wollten allerdings auch Demokraten vor sich und ihren Übertreibungen bewahren.






Dr. phil. Eberhard Straub, geboren 1940 in Berlin, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker, Publizist und Buchautor war bis 1986 Feuilletonredakteur der FAZ und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Zu seinen Publikationen zählen „Drei letzte Kaiser“ oder „Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit“.

Foto: CDU-Parteitag in Wiesbaden 1988 unter dem Motto „Die Volkspartei der Mitte“, Parteichef Helmut Kohl hält die Eröffnungsansprache: Effektvolle Dramatik und inszenierte Gegensätze zur Suggestion von Richtungsentscheidungen zwischen Konservativen und Sozialisten