© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Konstruktionsfehler einer neuen Ordnung
Europa nach 1989: Kristina Spohr zeichnet den Weg einer „diplomatischen Revolution“ nach
Paul Leonhard

Die Welt im Kalten Krieg. Eine dem Text vorangestellte Karte zeigt die mächtigen globalen Spieler der Nachkriegszeit: die beiden sich unversöhnlich gegenüberstehenden Blöcke von Warschauer Vertrag und Nato. Dazu die Länder der Bewegung blockfreier Staaten, die Arabische Liga und mehr oder weniger neutrale oder nach eigenen Interessen ausgerichtete Staaten. 

2017 hat sich das Bild zwar nicht komplett – die Nato-Staaten und Rußland stehen sich noch immer drohend gegenüber – verändert, aber es gibt kaum ein Land, auf das der Grafiker nicht die chinesische Flagge gesetzt hat. Als Zeichen dafür, daß der größte oder zweitgrößte Handelspartner China ist. Das betrifft Rußland ebenso wie die USA, Kanada, Deutschland, Australien, Indonesien und die meisten afrikanischen Länder. Zwischen beiden Karten liegen knapp 1.000 Seiten, auf denen Kristina Spohr nachzeichnet, wie es zu dieser „Neuordnung der Welt nach 1989“ gekommen ist, aus welchen Gründen die jeweiligen Akteure gehandelt haben und wieso ausgerechnet die chinesischen Kommunisten als scheinbarer Sieger dastehen.  

Noch Anfang 1989 spielte die Nato mit der Übung „Wintex 89“ die Möglichkeit eines Ersteinsatzes von taktischen Atomwaffen als Reaktion auf einen sowjetischen Panzer-Großangriff durch. Als sich der bundesdeutsche Vertreter weigerte, einen zweiten Atomschlag von deutschem Boden zu befehlen, wird die Nato-Übung abgebrochen. Weniger als ein Jahr später zeigte sich, daß der Kalte Krieg nicht mit einem „globalen nuklearen Holocaust“ enden mußte, sondern aus einem „weitgehend friedlichen Prozeß, bei dem aus internationalen Abkommen, die in einem beispiellosen Geist der Zusammenarbeit ausgehandelt wurden, eine neue Weltordnung hervorging“, so die Autorin, die als die beiden wichtigsten Katalysatoren dieses Wandels den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow mit seiner Vision von Glasnost und Perestroika, also Offenheit und Umgestaltung, sowie dieexplosive Kraft der Bevölkerung auf den Straßen Ost- und Mitteleuropas, die in einer liberalen kapitalistischen Demokratie nach westeuropäischen Muster die Zukunft sahen.

Gut lesbar werden die 796 Seiten reiner Text dadurch, daß Spohr „den wichtigsten Staatslenkern über die Schulter“ schaut und von 1989 bis 1992 verfolgt, „wie sie die neuen Kräfte, die in ihrer Welt wirksam werden, zu verstehen und zu kontrollieren suchten“. Die Tagebucheinträge der damals Beteiligten, Memoranden, Gesprächsprotokolle, Geheimdienstberichte vermitteln ein facettenreiches Bild jener Monate. Problematisch wird es, wenn die Autorin bei ihrem Versuch, wichtige Episoden möglichst detailliert zu rekonstruieren, auf Zeit-Online oder den Spiegel als Quellen zurückgreift.

Interessant ist dagegen ihre Analyse der Ereignisse in Polen, die sie als „Reform von oben, ausgelöst durch revolutionären Druck von unten“ beschreibt. Auch erinnert die an der London School of Economics lehrende Spohr daran, daß die Gewerkschaft Solidarnosc schon 1988 von den durch sie ausgelösten Ereignissen völlig überfordert war, es schließlich im August 1989 zu einem Schulterschluß mit den Kommunisten kam und Polen sich 1990 zur Präsenz der Sowjetarmee auf dem eigenen Territorium bekannte. Während der sich in Europa abzeichnenden Wiedervereinigung Deutschlands und der Massenproteste in den bisher sozialistischen Staaten bildeten die Regierungschefs der USA, der UdSSR und Deutschlands, George W. Bush, Gorbatschow und Helmut Kohl, sowie ihre Außenminister James Baker, Eduard Schewardnadse und Hans-Dietrich Genscher ein wichtiges Machtdreieck. Spohr schreibt von einer auf konservative Art durchgeführten „diplomatischen Revolution“, deren Hauptakteure „eine kleine, eng miteinander verbundene Gruppe“ bildeten. Am Rande standen dabei der französische Präsident François Mitterrand und die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die sich mit ihrem Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung letztendlich isolierten.

Das Buch untersucht aber auch, wie es dazu kam, daß Gorbatschow in der Sowjetunion vollkommen die Kontrolle verlor und schließlich fast in die fatale Situation geriet, dem chinesischen Beispiel zu folgen, als er mit Panzern die Unabhängigkeitsbewegung der ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen stoppen wollte, während Deng Xiaoping nach dem Blutvergießen auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 einen Balanceakt zwischen Sicherung der Herrschaft der Kommunistischen Partei und einem schrittweisen Eintritt in die kapitalistische Weltwirtschaft mit Bravour schaffte.

Rußland wurde an Europas Peripherie abgedrängt

In Europa wurde auf die neuen Verhältnisse mit dem Erhalt, der Modifizierung und Vergrößerung der beiden wichtigsten westlichen Bündnisse des Kalten Krieges, der Nato und der Europäischen Gemeinschaft, reagiert, also auf bestehende Institutionen und Strukturen gesetzt. Da aber die USA eine „europäische Macht“ bleiben wollten, glückten weder die Schaffung einer paneuropäischen Architektur noch die Einbindung Rußlands in eine gemeinsame Sicherheitsstruktur. Im Gegenteil: Der noch immer mächtige und statusbewußte russische Rumpfstaat – was sowohl für Boris Jelzin als auch seinen Nachfolger Wladimir Putin „unerträglich“ ist – wurde an die Peripherie eines neuen Europa abgedrängt. Höhepunkt der Mißachtung war die aktive Unterstützung der USA für russische Oppositionsgruppen 2012.

Spohr wirft dem Europa des Maastricht-Vertrags vor, „nicht die notwendige Vision und Energie für einen ungeteilten, freien und dynamischen Kontinent entwickelt“ zu haben. Selbst die Grundüberzeugung, daß das europäische Integrationsprojekt irreversibel ist, sei durch den Brexit erschüttert, der Glaube an die Unzerstörbarkeit des transatlantischen Bündnisses durch US-Präsident Donald Trump untergraben worden. „Die traditionellen westlichen Wahrheiten von Demokratie und Freihandel“, so die Autorin, würden „auf der ganzen Welt in Frage gestellt“, von Rußland, China und den USA. Spohr verweist auf die „Konstruktionsfehler der neuen Ordnung“, auf eingefrorene Konflikte, die Auflösung von Rüstungskontrollabkommen, die Verknöcherung internationaler Institutionen, den Aufstieg mächtiger autoritärer Regime, die gewachsene Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen. 

Kristina Spohr: Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989. DVA, München 2019, gebunden, 976 Seiten, 42 Euro