© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Das Geheimnis der sieben Siegel lüften
Der Philosoph Vittorio Hösle erörtert zeitgemäße Grundlagen der Hermeneutik
Felix Dirsch

Die biblischen Schriften, Altes und Neues Testament, gehören neben den Epen des Homer seit Jahrtausenden zu jenen zentralen Überlieferungssträngen, an denen sich die abendländische Interpretationskunst immer wieder neu zu bewähren hat. Eine der entscheidenden Fragen, die sich stellt, lautet dabei: Muß man bei deren Deutung die Absicht des Autors, über die man oft nur rätseln kann, berücksichtigen oder nur die Wirkung auf die Rezipienten? Wesentlich ist bei der Exegese klassischer Texte die Suche nach der darin als versteckt vermuteten Wahrheitsbotschaft.Im Laufe der Neuzeit wandelt sich das auslegungstheoretische Interesse. 

Gegen postmoderne Relativierungsversuche

Vor dem Hintergrund maßgeblicher Arbeiten im 19. Jahrhundert (Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband etc.) wie im folgenden Zentennium (Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer) behandelt der in den USA lehrende Philosoph Vittorio Hösle (University of Notre Dame in Indiana) die viefältigen Aspekte der Hermeneutik neu. Sein ambitioniertes Ziel ist es, gegen postmoderne Relativierungsversuche ein Fundament für intersubjektives Aneignen und damit für die Geisteswissenschaft insgesamt zu legen. Die Studie zeigt unter den zentralen Gesichtspunkten „Analytik des Verstehens“ und „Dialektik des Verstehens“ eine Fülle thematischer Implikationen auf, darunter kommunikationstheoretisch-sprachliche.

Konnte man im 19. Jahrhundert noch Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften dadurch unterscheiden, daß erstere gesetzliche Aussagen treffen müssen, während letztere für den Einzelfall – beispielsweise bei der Interpretation eines Gedichts – zuständig sind, so sieht man diese Differenz nach den Revolutionen der modernen Physik vor etwa einem Jahrhundert notwendig anders.

Während seit Spinozas epochaler Wende im 17. Jahrthundert der Wahrheitsanspruch eines Textes gern zugunsten einer subjektiven Deutung des Sinns zurückgenommen wird, registriert man seit Jahrzehnten zunehmend Versuche einer Umkehr. Hösle folgt diesen nicht grundsätzlich, empfiehlt aber, eine „Selbsteinholung des eigenen Denkens“ zu leisten. Weiter rät er, den eigenen „Wahrheitsanspruch guten Gewissens ernst zu nehmen“. Diese Worte sind wohl zustimmungsfähig; ob aber auf diese Weise eine neue Grundlegung der Geisteswissenschaft erreicht werden kann, bleibt fraglich.

Vittorio Hösle: Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften. Verlag C.H. Beck, München 2019, gebunden, 503 Seiten, 38 Euro